Samstag, 23 April 2022 04:55

Das Leben erwandern

geschrieben von
Artikel bewerten
(6 Stimmen)

Mauer web„Du kannst nicht ewig auf dem Gipfel bleiben, irgendwann musst Du wieder runter steigen. Warum machst Du Dir dann überhaupt die Mühe zum Aufstieg? Weil das, was unten liegt, nicht weiß, was oben ist. Aber was oben ist, kennt alles was darunter liegt. Je höher Du steigst, desto mehr siehst Du. Wenn Du wieder hinabsteigst, siehst Du zwar nichts mehr, aber wenigstens hast Du alles gesehen. Es ist eine Kunst, sich im Tal an das zu erinnern, was Du oben gesehen hast. Auch wenn Du es nicht mehr siehst, wirst Du es immer wissen.“ Unbekannter Autor

Meine Lebenswanderung: Quo Vadis?

Im April 2022 durchwanderte ich mit zwei Freunden das Tramuntana-Gebirge von Mallorca. Nach der Umwanderung von Ibiza war das mein zweites längeres Wanderabenteuer auf den Balearen. Was für ein Gefühl, sich 8 Tage lang über 140 Kilometer Fußwege und 6000 Höhenmeter von der Welt auszuklinken und durch Berge, Täler und entlang von Küsten zu wandern!

Was für ein Erlebnis, in unberührter Natur wieder die eigene Geschwindigkeit und den eigenen Raum zu finden; an Olivenbäumen vorbeizukommen, die seit hunderten Jahren Wanderer vorbeigehen sehen, Schafen und Ziegen zu begegnen, die zeitlos nur auf das Heute bedacht sind, unter Geiern Höhen zu erklimmen, die nicht für Menschen gedacht sind, der Brandung des Meeres zu lauschen, die seit ewigen Zeiten die Insel Stück um Stück verzerrt, sich widerstandslos auf Wind, Regen, Kälte und Hagel einzulassen, Steinwege zu betreten, die seit hunderten von Jahren von Hirten, Jägern, Bauern, Schneesammlern, Köhlern, Händlern, Schmugglern und Piraten begangen wurden. Und dabei mit jedem Schritt und Atemzug viel Zeit zu haben, um die Gedanken frei laufen zu lassen, über Nichts und Alles, über Gott und die Welt, über Gestern und Morgen, über Leben und Tod nachzudenken.
Dabei bin ich mir wieder bewusst geworden: Freiheit ist das größte Geschenk im Leben!

Und jede Wanderung gleicht dem Leben. Man kennt den Anfangspunkt und hat eine gewisse Vorstellung von der Reise und vielleicht auch vom Endpunkt. Aber wie sich so ein (Lebens)Weg entfaltet, welche Höhen und Tiefen es dabei zu durchqueren gibt, welche Hindernisse zu überwinden, mit welchen Schwierigkeiten es zu kämpfen gibt und wie gnädig die Wettergötter oder das Schicksal sein werden, das kann man nicht wirklich vorhersehen oder beeinflussen. Manche Begegnungen, mancher Weitblick und mancher Einblick werden sich überraschend auftun; manche Freuden genauso wie manche Enttäuschung. (Lebens)Müdigkeit und Aussichtslosigkeit wird genauso dabei sein, wie unerwartete Lebendigkeit, Kraft und Klarheit.
Aber letztendlich ist so eine (Lebens)Reise immer ein transformierendes Erlebnis und am Endpunkt wird man als ein anderer Mensch ankommen …. und doch auch der alte sein.

Wie im Leben sind auch beim Wandern Flexibilität, Neugier und Durchhaltevermögen wichtige Utensilien um ans Ziel zu kommen. In diesen 8 Tagen und 9 Nächten war alles willkommen: Wander-Hütten, 8-Bett-Zimmer, 4-Stern-Hotels, „Hunger-ist-der-beste-Koch“, Gourmet-Restaurants, Sturm, Hagel, Regen oder Sonne.
Alleine oder mit anderen über mehrere Tage unterwegs zu sein, hat seine Vor- und Nachteile.
Aber eine wunderbare Bereicherung, wenn man gemeinsam unterwegs ist: Man(n) kann gemeinsam Erlebnisse und Lebensthemen kontemplieren: Jeden Morgen setzten wir einen gedanklichen Schwerpunkt, über den wir beim schweigenden Gehen reflektierten und uns darüber am Abend austauschten:
Was bedeutet mir Gemeinschaft?
Wie will ich mein restliches Leben leben?
Wie gehe ich mit Widerstand und Ohnmacht um?
In wie weit spiegelt diese Wanderung meinen Lebensweg wider?
Was bedeutet mir Natur?
Und was war heute mein schönstes, schlimmstes, lustigstes und überraschendstes Erlebnis?

Durch diese kontemplative Note kann jede Wanderung zu einer Entdeckungsreise zu sich selbst und zum Leben werden.

Gelesen 1465 mal