Sonntag, 27 Dezember 2020 12:58

Dimensionen unseres Charakters

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Meeres TorSchüler: „Warum reagierst du – im Gegensatz zu mir - in allen Situationen so gelassen?“
Meister: „Weil du dich in der Welt siehst, aber ich sehe die Welt in mir!“

Heute und seit Menschengedenken wird darüber gerätselt, philosophiert und gestritten, warum wir scheinbar alle die gleiche Welt wahrnehmen und doch so unterschiedlich darauf reagieren.

Landkarte oder Landschaft

Zunächst ist es wichtig zu verstehen, dass Konzepte jeglicher Art in der Wissenschaft, Philosophie, Religion und im Alltag nicht mit der eigentlichen Realität zu verwechseln sind. Eine Landkarte (man nennt das heutzutage Google-Maps) dient nur zur Orientierung, ist aber nicht die Landschaft. Wenn wir uns darüber streiten, wer die richtige oder wertvollere Karte hat, dann übersehen wir die unbeschreibliche und faszinierende Schönheit in uns und um uns herum.

„Big Five“ des Charakters

Der Charakter bedingt sich durch unser genetisch vererbtes Temperament und durch unsere Gewohnheiten, die uns anerzogen wurden und die wir selber durch unsere Beziehung zu Mitmenschen und Umwelt erlernt haben. Eigentlich genügen fünf Hauptmerkmale und deren Gegenpole, um die wichtigsten Eigenschaften eines jeden einzigartigen Individuums zu beschreiben:
1) Offenheit und Gewohnheitsliebe
2) Gewissenhaftigkeit und Sorglosigkeit
3) Extraversion und Introversion
4) Verträglichkeit und Skepsis
5) Zufriedenheit und Neurotizismus.

Wenn ich immer nach aufregendem Neuen Ausschau halte, ist es manchmal ganz gut, bei etwas Bekanntem länger Zeit zu verweilen. Klebe ich am Gewohnten, kann es sehr heilsam sein, mutig die Schwelle in unvorhersehbares Terrain zu überschreiten. Verliere ich mich gerne in Details, kann ein großzügiger Blick auf das Ganze hilfreich sein. Aber manchmal ist es besser statt durch ein Teleskop durch ein Mikroskop zu blicken. Verliere ich mich gerne im Trubel der Außenwelt, kann ein Rückzug nach Innen unerwartete Erkenntnis bringen. Bin ich dagegen sehr mit mir und meiner Innenwelt beschäftigt und darin gefangen, dann kann mir das Draußen eine wunderbare Offenbarung präsentieren.

Ein glückliches Leben hängt aber in erster Linie von meiner Fähigkeit ab, wie weit ich mich mit meiner Eigenartigkeit, mit eigenartigen Mitmenschen und eigenartigen Situationen arrangieren, vertragen und in Frieden sein kann … speziell dann, wenn sie ungebeten und unausweichlich meine Lebensbühne betreten.

Drei wesentliche Dimensionen

Der amerikanische Genforscher Robert Cloninger unterscheidet drei Dimensionen des Charakters: Selbstbestimmung, Bereitschaft zur Hilfe und Zusammenarbeit sowie Selbst-Transzendenz. Das Zusammenwirken dieser drei Qualitäten macht ein zufriedenes Leben aus – sowohl auf weltlicher als auch auf spiritueller Ebene.
Daher sollte ich auf Folgendes achten, wenn ich von Tag zu Tag bekannte Gewässer durchkreuze und unbekannte Ufer betrete:

1) Unabhängigkeit

Gestalte ich mein Leben so, dass ich nicht zu sehr von Menschen und bestimmten Tätigkeiten und Erfahrungen abhängig bin? Kann ich auch dann zufrieden sein, wenn ich nicht immer meine Lieblingsspeise zu mir nehme, aber doch genug zum Essen habe; wenn ich nicht immer meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen kann, aber dennoch mental und körperlich gesund bin; wenn ich nicht immer von gleichgesinnten Freunden umgeben bin, sondern auch von Menschen, die anderer Meinung sind und andere Gewohnheiten haben?
Ganz in dem Sinn wie Rudyard Kippling sagt: „If neither foes nor loving friends can hurt you, If all men count with you, but none too much!“ (Wenn dich nicht Feind noch Freund verletzen können und du die Hilfe niemandem verwehrst!)

2) Egolos und Urteilsfrei

Bin ich fähig egoistische Einstellungen und Handlungen in Frage zu stellen – seien es die eigenen oder die von anderen? Und bin ich bereit anderen zu helfen; speziell auch jenen, die mir nicht nahe stehen? Bin ich sensibel und intuitiv genug, nicht nur Absichten und Motive hinter bestimmten Aussagen und Handlungen zu durchschauen, sondern gelingt es mir sogar meine festgefahrenen Vorurteile loszulassen?
Ein Indianisches Sprichwort lautet: „Großer Geist, bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht einen Bogenschuss in seinen Mokassins gegangen bin.“

3) Beyond the World

Mach ich mir immer wieder bewusst, dass weltliche und persönliche Werte und Wahrheiten nicht das einzige und höchste Gut auf Erden und im Leben sind? Wenn ich eine gewisse und bewusste Distanz der scheinbar „objektiven“ Alltags-Realität einnehme, dann verblassen meine dualistischen Denkmuster von richtig und falsch, gut und schlecht. Erst dann wird es mir möglich sein, auch jene prägende subjektive Realität meiner Psyche (und die von anderen!) bewusst zu werden. Und wenn ich mich zu bestimmten Zeiten von diesen zwei ineinander verwobenen Realitäten des Alltags und der Psyche lösen kann, dann werde jene absolute Realität erahnen können, die die transpersonalen, zeitlosen und göttlichen Aspekte des Daseins beinhalten.
In Zeiten, wo Spaltung zur Norm wird und Deeskalation als Ausnahme angesehen wird, sollten wir uns an diese Worte von Rumi erinnern: „Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort können wir einander begegnen.“

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