Freitag, 18 Juni 2021 06:59

Zurück in eine neue Heimat

geschrieben von
Artikel bewerten
(3 Stimmen)

Irrsee Alpen„Wer die Enge seiner Heimat ermessen will, reise.
Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte.“
Kurt Tucholský

Es ist ein eigenartiges Gefühl, nach einem halben Jahr wieder zurück in die alte neue Heimat zu kommen. Eigentlich war die Rückreise schon wesentlich früher geplant, aber eigenartige – und für mich nicht immer nachvollziehbare - Umstände und Maßnahmen machten die Entscheidung leicht, den Aufenthalt in der klimatischen und gesellschaftlichen Wärme des Mittelmeeres zu verlängern. Seit meiner Abreise von zu Hause zur Winter-Sonnwende haben sich nicht nur die Landschaft, das Pflanzenkleid und das Wetter gewandelt, sondern auch die gesellschaftliche Stimmung, die politische Glaubwürdigkeit, das mediale Narrativ und die individuellen Freiheiten … und vieles davon nicht nur zum Positiven.

Mir scheint, dass seither die Distanz zwischen Mitmenschen, die  Maskierung und die Angst vor etwas Unsichtbaren größer geworden ist. Dagegen scheint ein natürlicher Umgang mit sich, anderen und der Natur abgenommen zu haben, und damit auch unverhüllt strahlende Gesichter und das Händereichen (nicht nur im übertragenen Sinne). Der österreichische Politiker Hanns Koren hat einmal gesagt: „Heimat ist Tiefe, nicht Enge.“ … und diese Erfahrung ist mir in letzter Zeit etwas abhanden gekommen.

Der Begriff Heimat verweist auch auf eine Beziehung zwischen Mensch & Raum. Was kann mir aber die schönste Landschaft, in der ich aufgewachsen bin, bieten, wenn ich dort meinem Beruf nicht mehr nachgehen kann, oder wenn ich von bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Ereignissen ausgeschlossen werde, weil ich gewisse Dokumente nicht vorweisen kann, wenn ich es nicht mehr wage, zu bestimmten Themen meine Meinung zu äußern, weil sie nicht mehr in das eng definierte Narrativ von Politik, Medien und Gesellschaft passt?

Diese äußeren Veränderungen bewirken auch einen inneren Wandel (und vice versa) … und bedingen auch einen Shift in meiner subjektiven Wahrnehmung. Wie ich als Person und wir als Gesellschaft damit umgehen, ist und wird eine spannende und unvorhersehbare Reise. Manchmal habe ich dabei das Gefühl, dass ich etwas unerwartet vom Kindergarten in die Hochschule des Lebens katapultiert wurde und mir für einige der gegenwärtigen Aufgaben die Tools und die Lösungsansätze fehlen. Und das unweigerlich: Learning by doing, learning by being, learning through trial & error.
Auf diesem gerade etwas stürmischen und ruckeligen Lebensabschnitt haben sich einige Freundschaften bestätigt oder sogar vertieft, andere haben sich abgekühlt oder verabschiedet. Und natürlich wurde ich mit einigen Ent-täuschungen konfrontiert, aber dafür wurde ich mit wertvollen Erkenntnissen und neuen Schätzen beschenkt, die sich beim Schönwetter-Programm des Lebens niemals gezeigt hätten.

Das Leben hat mir in den letzten Monaten auf den Balearen einen schönen und schützenden Hafen geboten. Aber Schiffe sind nicht für den Hafen gebaut, sondern um ferne und auch unbekannte Ziele zu erreichen. Erst bei solchen abenteuerlichen Überfahrten, mit ungewissem Ausgang, stellt sich heraus, wie weit ich mich schon auf meinen eigenen spirituellen Kompass, auf meine Lebenserfahrung, auf meine Weisheit und auf meine Intuition vertrauen kann.

Und ich bin froh, dass es bei stürmischer See und im Dunklen der Nacht immer wieder Leuchttürme gibt, die mir einen sicheren Weg weisen. Zu solchen Lebensleuchten gehört meine furchtlose Mutter, die trotz (oder wegen) ihrer 84 Jahren ihre zuversichtliche Klarheit, ihre Tendenz zur eigenwilligen Revoluzzerin, ihre Liebe zu unangepassten Charakteren, ihr kritisches Hinterfragen von Politik und Medien und ihren treffsicheren Humor nicht im Geringsten verloren hat.
Jetzt wird mir auch immer bewusster, wer an meiner ungewöhnlichen Lebenseinstellung „schuld“ ist ... und dafür bin ich IHR unendlich dankbar!

Gelesen 1376 mal