„Sobald Du dich zum Vertrauen in den in dir schlummernden, längst verschütteten natürlichen Menschen durchgerungen hast
und ihn schalten und walten lässt, realisierst du das Tao.“

Theo Fischer

Prolog

In den letzten Jahren fällt mir auf, wie Regierungen und Politiker versuchen, zunehmend mehr Kontrolle über uns Bürger auszuüben. Und ich beobachte, wie Medien und Journalisten Nachrichten framen und vorgeben, wie wir Bürger globale und nationale Situationen, Krisen und Kriege beurteilen sollen und indem sie „betreutes Denken“ vorgeben.
Als freiheitsliebender, kritischer Mensch und inspiriert durch den Taoismus hinterfrage ich zunehmend auch religiöse und spirituelle Vorgaben, Glaubenssätze und Regeln. Dieser Perspektivenwechsel fühlt sich wie ein Loslassen von geistigen Krücken an, mit deren Hilfe ich Jahrzehnte durchs Leben gegangen bin; sei es als buddhistischer Mönch in Asien oder als Yogalehrer im Westen.

Taoismus

„Die Lehre des Taoismus ist eine Geisteshaltung, in der Traum und Realität, Vision und Handeln in eine Einheit verschmelzen.“
Theo Fischer

Taoismus bedeutet wörtlich „die Lehre vom Weg“. Vieles klingt dabei für uns rationale Westler unrealistisch und weltfremd. Um diese zeitlose Lebensphilosophie etwas anschaulicher und alltagstauglicher zu machen, möchte ich hier 10 Prinzipien beleuchten, die Theo Fischer in seinem Buch „Wu Wei“ unter dem Kapitel „Die Lebensweise des Tao“ zusammenfasst.

Essenzielle Lebens-Fragen und Lösungen

Vorweg: Im Taoismus gibt es keine religiösen Gebote oder Regeln. Aber er gibt Hinweise und stellt wichtige Fragen:
Wo stehe ich gerade im Leben, und wie frei oder verwickelt bin ich wirklich?
Sind meine Probleme Zufälle oder selbstgemacht?
Welche Lösungen gibt es, um alten Plunder loszuwerden und zu mehr Lebensfreude und Leichtigkeit zu gelangen?
Keiner dieser unten angeführten Bausteine steht für sich allein, sondern alle sind wie ein Netz miteinander verwoben. Wird an einer Stelle gezogen oder gewoben, dann wird dies an allen anderen Stellen des Gewebes deutlich spürbar.

Der Mensch des Tao lebt in der Gegenwart

“Life is what happens to you while you’re busy making other plans.” John Lennon

Wie viel Zeit verbringen wir im Leben mit oder für etwas, das nichts mit der unmittelbaren Gegenwart zu tun hat? Wie oft nehmen wir unseren Körper und unsere Umgebung gar nicht wahr, weil unser Geist sich ganz woanders befindet? Sei es wegen freischwebender Gedanken an die Vergangenheit oder an die Zukunft; oder weil wir durch buchstäblichen und medialen Input in andere Welten katapultiert und dort gefesselt werden.
Natürlich ist es wichtig, dass wir mehr oder weniger auf dem Laufenden sind, was in unserem Land und in der Welt so alles passiert. Und vieles davon kann ein wichtiger Spiegel dafür sein, was sich gegenwärtig auch in uns abspielt. Aber wir sollten uns von globalen Nachrichten nicht abhängig machen, denn Medien versuchen, unsere Aufmerksamkeit mit allen möglichen Tricks, durch Negativität und durch Angstmache auf sich zu ziehen.
Wie heilsam ist es dagegen, einen tatsächlichen Spaziergang in der realen Natur zu machen, wo jede Pflanze und jedes Tier uns daran erinnern, dass wir nur diesen einzigartigen und kostbaren Augenblick erleben und genießen können. Und an jedem Tag liegt es einzig und allein an uns, wie sehr wir ihn gegenwärtig oder zerstreut leben.

Der Mensch des Tao kramt nicht in seinen Erinnerungen

„Viele leben zu sehr in der Vergangenheit. Die Vergangenheit soll ein Sprungbrett sein, aber kein Sofa.“ Harold Macmillan

Ohne dem Erinnerungsvermögen kann kein Lebewesen existieren. Die Tiere in der Wildnis haben jedoch die Fähigkeit, traumatische Erfahrungen im wahrsten Sinne des Wortes abzuschütteln oder wegzuzittern. Wir haben dagegen die Neigung, negative Erfahrungen wie eine Klette mit uns zu tragen. Oder wir holen die Sternstunden unserer Vergangenheit immer wieder hervor, um uns von der Langweile oder Unerträglichkeit der Gegenwart abzulenken.
Positive Transformation kann in unser Leben erst dann einfließen, wenn wir Vergangenem und Überholtem keine unnötige Aufmerksamkeit mehr schenken und stattdessen die Schleusen zur lebendigen Gegenwart weit öffnen …. und damit zu unserer neuen potenziellen Zukunft.

Der Mensch des Tao hat ein natürliches Verhältnis zu seinen Gefühlen

„Das Anrecht auf Respekt, Anerkennung und Wertschätzung hat ein Mensch nur dann, wenn er als Spiegelbild und Reflektor seiner eigenen emotionalen Bedürfnisse agiert.“ Markus Keimel

Wenn wir mit einer dualistischen Haltung durchs Leben gehen und alles in Schwarz-Weiß, Richtig-Falsch und Gut-Böse unterteilen, dann klammern wir uns an das eine und bekämpfen das andere. Diese destruktive Haltung erleben wir nicht nur in Religionen, zwischen Staaten oder in der Gesellschaft. Vielen von uns wurde diese einseitige und ausgrenzende Haltung bereits mit der Muttermilch und durch die Erziehung eingetrichtert.
Wenn es uns gelingt, „negative“ Emotionen wie Angst, Trauer, Wut, Schmerz oder Scham weder zu bekämpfen noch zu unterdrücken, sondern mit Offenheit und Neugier zu betrachten – und sie sogar willkommen zu heißen, dann werden unnötige, krankmachende oder gar gefährliche Gefühlsdämme erst gar nicht errichtet werden. Die taoistische Haltung gleicht einem Fluss: Alles fließt und daher steht Freude nicht mehr im Gegensatz zu Leid, Ärger ist nicht der Feind der Liebe und Angst ist nicht schlechter als Zuversicht.

Der Mensch des Tao versucht nicht, seine eigenen Fehler zu bekämpfen

„Unsere Mängel sind unsere besten Lehrer: aber gegen die besten Lehrer ist man immer undankbar.“ Friedrich Wilhelm Nietzsche

Was ich im Laufe der Zeit bei mir und um mich herum beobachtet habe: Je spiritueller und heiliger die Einstellung, desto eher wird unsere fehlerhafte Menschlichkeit ignoriert, geleugnet oder bekämpft. Der Glaube und die Sehnsucht, dass nur Gutes in mir und in der Welt existieren soll, ganz ohne den Gegenpol von Fehlern und Boshaftigkeit, ist im Menschen und in Religionen tief verankert.
Je mehr wir auf Kriegsfuß mit unseren eigenen Unzulänglichkeiten sind, desto mehr sind wir im Kampf mit all dem, was wir in anderen Menschen oder Gemeinschaften als Falsch und Böse stigmatisieren. In den letzten Jahren beobachte ich, dass ausgerechnet die „Gutmenschen“ im „Wertewesten“ sich für Zensur, Ausgrenzung und Deplatforming gegenüber Andersdenkenden stark machen.
Was passiert in dem Moment, wo wir mit Gier, Neid, Eifersucht, Ehrgeiz, Furcht oder Wut Frieden schließen, ihnen geduldig zuhören und die dahinter liegenden menschlichen Bedürfnisse ernst nehmen: Wir schließen dann auch Frieden mit all unseren Mitmenschen, sogar mit den unsympathischen, bösartigen und falschen.

Der Mensch des Tao ist fleißig

„Fleiß ist Respekt vor sich selbst!“ David Tatuljan

Wenn Außerirdische heute in unserer modernen Gesellschaft sich umschauen würden, dann würden sie in erster Linie zwei Arten von Menschen beobachten: Den Großteil werden sie als Workaholics erkennen, die sich tagtäglich in einer Arbeitswut austoben, sich ablenken und sich dabei – früher oder später – erschöpfen und ausbrennen. Die anderen hängen ohne Eigeninitiative gebannt vor irgendwelchen Bildschirmen und lassen sich berieseln, unterhalten und bespassen.
Wie viel Fingerspitzengefühl und Achtsamkeit braucht es dagegen, wenn wir die Gesetzmäßigkeiten unseres Körpers und unseres Geistes spüren und uns durch das Leben bewusst bewegen oder treiben lassen. Eines der offenen Geheimnisse von alten, gesunden und glücklichen Menschen ist: Sie sind auf natürliche Weise aktiv, um sich und die Umwelt im Fluss und in Schuss zu halten.

Der Mensch des Tao ist schöpferisch

„Du kannst die Kreativität nicht aufbrauchen. Je mehr du sie benutzt, desto mehr hast du.“ Maya Angelou

Wenn unser Leben nur noch durch Routine und Gewohnheiten bestimmt ist, dann degenerieren und altern wir sogar schon in jungen Jahren. Unsere Gehirnbahnen und unser Leben rosten ein und wir sind nur noch mit passivem Reagieren und Konsumieren beschäftigt. So eine eingeschränkte Lebenshaltung lähmt nicht nur uns selber, sondern ermüdet auch unsere Umgebung. Und so mancher von uns wird auf diese Art zum Energiestaubsauger, ohne dass er sich dessen bewusst ist.
Wie gegensätzlich erleben wir dagegen jene Menschen, die offen gegenüber der natürlichen Schöpferkraft des Universums sind und deren Kreativität andere zu Lebendigkeit und Lebensfreude mitreißen. Tagtäglich können wir entscheiden, welchen Anteilen wir in uns folgen und mit welchen Mitmenschen wir uns umgeben.

Der Mensch des Tao ist voller Lebensfreude

„Die Aufgabe des Lebens, seine Bestimmung, ist Freude. Freue dich über den Himmel, über die Sonne, über die Sterne, über Gras und Bäume, über die Tiere und die Menschen.“ Leo Tolstoi

Vielleicht ist in unserer „fortgeschrittenen“ Gesellschaft die Unterhaltungs-, Ablenkungs- und Genuss-Industrie deswegen so erfolgreich, weil viele Mensch unter den abartigen Lebensbedingungen so wenig wahre Freuden erleben? Die künstliche Wunderwelt, die uns tagtäglich virtuell und real präsentiert wird, macht uns einerseits süchtig; andererseits stumpfen wir dadurch so ab, dass wir die kleinen Geschenke gar nicht mehr wahrnehmen, die uns das Lebens tagtäglich präsentiert.
Digitale Reduktion, Minimalismus, Waldbaden und die Realisation „less is more & small is beautiful“ sind notwendige Erkenntnisse, die den überbordenden Konsumwahn und die gewohnte Genusssucht in Frage stellen und entsprechend gegensteuern. Manchmal braucht es aber auch einen radikalen Lebenswandel, einen bewussten Ausstieg aus jenem Hamsterrad, in das wir irgendwann einmal hineingestolpert sind – oder hineingestoßen wurden. Denn erst dann können wir jene Freiheiten und Lebensfreuden wiederentdecken, die immer da sind.

Der Mensch des Tao strebt nicht nach Einfluss in der Gesellschaft

„Einfluss und Ehre kommen nicht selten dem entgegen, der sie am wenigsten sucht.“ Titus Livius

Je mehr wir Hollywood-Filme und Socialmedia konsumieren, umso eher haben wir ein großes Ziel im Leben: rich, famous & sexy. Extrovertiertheit und das Verlangen, von anderen bewundert und gesehen zu werden, hat meist mit Mangel an Selbstbewusstsein und Demut zu tun. Sogar der edle Wunsch, die Gesellschaft und die Welt unbedingt positiv zu verändern, kann in blindem Fanatismus und Verbitterung enden.
Entfalten wir dagegen die feine Fähigkeit, nach innen zu lauschen, um dabei unsere eigentlichen Fähigkeiten und Leidenschaften zu entdecken, und sie bewusst mit den Bedürfnissen der Mitmenschen und den Notwendigkeiten der Umwelt abzustimmen, dann verbinden wir uns mit dem natürlichen Lebensfluss. Diese intuitive Beziehung nach Innen und Außen beinhaltet eine lebendige Leichtigkeit und eine ungewöhnlich transformierende Kraft.

Der Mensch des Tao bewahrt sich in einem Liebesverhältnis seine Selbständigkeit

„Ein Schmetterling in meiner Hand überlebt nur, wenn ich die Faust nicht schließe. Sonst zerstöre ich den Staub auf seinen Flügeln, und er kommt elend um.“  Theo Fischer

Wenn ich mich umhöre, dann muss ich mit Bedauern feststellen, wie viele Freunde und Bekannte mit einem von zwei Dilemmas konfrontiert sind: Die einen stecken in einer Beziehung, über die sie unglücklich sind; die anderen wünschen sich nichts sehnlicher als einen Partner fürs Leben. Nachdem ich 13 Jahre lang einen mönchischen Lebensstil gewählt hatte und seit zwei Jahrzehnten in einer glücklichen Beziehung lebe, bin ich der Überzeugung, dass ein glückliches Liebesverhältnis nicht nur Zufall oder Schicksal ist.
Auch wenn wir uns dazu entschlossen haben, mit jemanden das Leben zu teilen um es gegenseitig zu bereichern, soll die persönliche Freiheit und individuelle Entfaltungsmöglichkeit dabei immer bestehen bleiben. Es klingt wie ein Paradox: Aber trotz eines fürsorglichen Zusammenlebens, das auf Vertrauen und Harmonie basiert, soll jeder gewisse Geheimnisse und verrückte Gewohnheiten behalten dürfen.

Der Mensch des Tao lebt ein Leben ohne Probleme

“People asking questions, lost in confusion. Well, I tell them there’s no problem, only solutions.” John Lennon

Probleme und Konflikte entstehen meist erst dann, wenn sich bestimmte Vorstellungen zwischen uns und der unmittelbaren Realität dazwischenschieben. Sorgen und Ängste bilden sich, weil wir bestimmte Glaubenssätze und Erwartungen über uns, über die Welt und über den Augenblick herumtragen.
Manchmal würde schon ein einziger Perspektivenwechsel genügen, um eine Krise als Chance und ein Problem als Lektion zu erkennen. Aber wir wollen das Geländer der gewohnten Gedanken nicht loslassen, vor lauter Angst, dass wir uns im Chaos oder im Fatalismus verlieren. Es braucht Offenheit und Selbstvertrauen, alle jene weltlichen und religiösen Institutionen und Autoritäten um uns und in uns in Frage zu stellen. Es braucht viel Mut, sich von dem zu lösen, was uns seit unserer Kindheit begleitet, denn vieles davon ist ein Teil von uns geworden. Aber ist nicht eine der entscheidendsten Frage im Leben: Will ich Sicherheit oder Freiheit?

So lebt ein Mensch des Tao

Nach diesen zehn Lebensprinzipien möchte ich zum Abschluss Chuang-tzu zu Wort kommen lassen, der einer der wichtigsten Philosophen des Taoismus aus dem 4 Jhd. v. Chr. ist:
„Sie sind aufrecht und gerecht, ohne zu wissen, dass solches Tun Rechtschaffenheit darstellt. Sie lieben einander, ohne zu wissen, dass solches Güte ist. Sie sind ehrlich und wissen doch nicht, dass solches Treue ist. Sie halten ihre Versprechen, ohne zu wissen, dass sie damit in Glaube und Vertrauen leben. Sie stehen einander bei, ohne daran zu denken, Geschenke zu vergeben oder zu empfangen. So hinterlässt ihr Handeln keine Spur.“