„Der, der das Gleichgewicht hält
jenseits des Wechsels von Liebe und Hass,
jenseits von Gewinn und Verlust,
von Ehre und Schmach,
hält die höchste Stellung in der Welt.“

Tao Te King, Lao Tse

Es ist meist leichter, sich im Leben am Extremen und am Gewohnten zu orientieren, anstatt immer wieder die innere und äußere Balance zu suchen, einen sorgfältig abgewogenen Kompromiss zu beachten und den goldenen Mittelweg zu gehen. Manchmal ist es auch leichter, sich nur auf einen Schwerpunkt zu fixieren und andere Lebensthemen auszuklammern. Dabei realisiere ich nicht, wie alles miteinander in Verbindung steht und – wie bei einem Spinnennetz – ineinander verwoben ist.

Ein Seiltänzer muss jeden Augenblick reagieren und ausgleichen, um seine Balance nicht zu verlieren. Auch wenn ich im Leben meist nicht so leicht die Balance verliere, ist es immer wieder sinnvoll, heilsam und notwendig, hinzuspüren, ob alles was mich umgibt und begleitet, alles was in mir und durch mich am Wirken ist, sich stimmig anfühlt und das richtige Mittel ist, um mein Leben mehr in Richtung Zufriedenheit und Glück zu steuern.

Jede Lebensphase hat unterschiedliche Themen und Herausforderungen: Das, was für mich als Kind das Liebste und Wichtigste war, hat mit der Zeit seine Priorität und Notwendigkeit verloren. Das, was mich heute beschäftigt und mir Sinn im Leben gibt, verliert vielleicht morgen schon an Relevanz. Dabei ist es gar nicht so wichtig, was sich für mich in der Vergangenheit als richtig und wichtig angefühlt hat oder was mir vielleicht einmal in Zukunft von Bedeutung sein wird: Es geht immer wieder darum, herauszufinden, was ist mir im Hier & Jetzt ein Herzensanliegen und gibt mir Erfüllung.

Die große Kunst im Leben ist, das größere Ganze nicht aus den Augen zu verlieren, aber dennoch die Aufmerksamkeit auf diesen Augenblick zu lenken: Denn er ist der einzige, den ich wirklich über alle Sinne und mit meinem Körper, Geist und Herzen erleben kann. Dieser Lebensmoment ist die Basis für die bewusste Entscheidung, den nächsten Schritt zu tun oder ihn zu unterlassen, in Aktion zu gehen oder inne zu halten, zu lieben oder gelassen zu bleiben.

Die Komplexität des Lebens ist manchmal unüberschaubar und scheint zunehmend komplizierter zu werden. Die Sehnsucht nach natürlicher Einfachheit, vorgegebenen Lebensregeln und leichten Lösungen ist groß. Um wirklich ein zufriedener Lebensmeister oder eine erfolgreiche Lebenskünstlerin zu werden, muss ich mir jedoch immer wieder die unterschiedlichsten Aspekte anschauen und abwägen. Zu Zeiten ist es auch essenziell, dass ich mich jenen Themen bewusst widme, die ich tendenziell verdränge, aufschiebe oder denen ich mit Abscheu und Widerstand begegne. Dieser Mut zur Wahrheit wird mich jedoch früher oder später mit Selbstbewusstsein, Durchlässigkeit und Lebensfreude belohnen.

Hier werde ich auf fünf Säulen eingehen, die sich gegenseitig ergänzen und überschneiden. Durch sie wird meine Selbstwirksamkeit entfaltet und mein Gefühl gestärkt, dass ich vom Leben getragen werde.

1) Gleichgewicht

„Der Mensch verliert das Gleichgewicht seiner Stärke, die Kraft der Weisheit, wenn sein Geist für einen Gegenstand zu einseitig und gewaltsam hingelenkt wird.“ Johann Heinrich Pestalozzi

Eine Balance im Leben – und die damit einhergehende Zufriedenheit – ist nur dann möglich, wenn ich unterschiedliche und auch widersprüchliche Aspekte gut integrieren und miteinander in Verbindung bringen kann. Die wesentlichen Lebensbereiche können in fünf Aspekte aufgeschlüsselt werden.

Die notwendige Erfüllung der Grundbedürfnisse
Was brauche ich wirklich im Leben? Kann ich spüren, wenn mir etwas Sorgen und Leid bereitet, weil es zu viel oder zu wenig vorhanden ist? Wie fürsorglich gehe ich mit meinem Körper um? Achte ich – wie bei einem Baby – darauf, dass er mit besten Lebensmitteln versorgt wird, aber nicht zu viel davon bekommt; dass er ausreichend Ruhephase bekommt, aber nicht zu viel davon; dass er sich ausreichend in der Natur bewegen kann, aber nicht zu extrem?
Wie groß oder klein soll mein Lebensraum sein, damit ich mich wirklich wohl fühle? In welcher Umgebung soll mein Zuhause liegen?
In welcher Kleidung fühle mich wohl und wie groß muss mein Kleiderschrank sein, damit ich zufrieden bin?

Das fürsorgliche Kultivieren von Beziehungen
Welche Beziehungen und Freundschaften sind mir wirklich wichtig und erlebe ich als erfrischend bereichernd? Welche Begegnungen pflege ich nur aus Gewohnheit oder empfinde ich als belastend? Welche Beziehungen erlebe ich als Energie- und Zeiträuber … und kann ich solche beenden, muss ich sie erdulden oder kann ich sie als Lernaufgaben erkennen?
Die pflichtbewusste Übernahme von Verantwortung:
Welche Aufgaben muss ich aus unterschiedlichen Gründen erfüllen: gegenüber meiner Familie, meinen Bekannten, meinen Nachbarn, meiner Gemeinde und meinem Staat; gegenüber der Menschheitsfamilie, allem Lebendigen und dem Planeten?

Die freudvolle Erholung in der Freizeit
Kann ich immer wieder den Ernst des Lebens und meine alltäglichen Verpflichtungen hinter mir lassen, um verspielte Momente zu erleben, mich dem entspannten Nichtstun und der lieblichen Muße hinzugeben? Wie sehr kann ich auch im geschäftigen Alltag humorvoll bleiben? Und kann ich auch in einem dicht getakteten Tagesablauf am richtigen Ort zur richtigen Zeit strahlende Lichtpunkte setzen, und sei es nur durch ein humorvolles Wort oder durch eine herzliche Geste?

Das bewusste Eintauchen in die Spiritualität
Kann ich mir Zeiten schaffen, in denen ich mir erlaube, durch das Alltagsbewusstsein und die physische Welt hindurchzublicken?
Kann ich mir Räume schaffen. wo ich mich ganz alleine zu einem Rendezvous mit dem Leben verabrede?
Kann ich Plätze in der Natur aufsuchen, wo ich mich ohne Ablenkung und Ziel niederlasse, um der einzigartigen Musik des Augenblicks zu lauschen?
Habe ich die Neugier, Gemeinschaften und Lehrer aufzusuchen, die mir einzigartige Dinge aufzeigen, die mir keine Medien vermitteln können?
Kann ich erkennen, dass es im Leben mehr gibt, als ich über die Sinne wahrnehmen kann und dass ich mehr bin als jene Person, mit der ich mich im Alltag identifiziere?
Kann ich jenen Moment erfassen, der zeitlos ist, jenen Raum erahnen, der grenzenlos ist und jene Erfahrung machen, die nicht in Worte ausgedrückt werden kann?

Diese fünf Bedürfnisse sind im Leben eines jeden Menschen unterschiedlich gewichtet und verändern sich von Lebensphase zu Lebensphase. Wann immer aber ein bestimmter Bereich zu viel Raum, Zeit und Energie einnimmt und sich auf Kosten von anderen Bereichen wie ein Krebsgeschwür oder ein Parasit ausbreitet, bedingt dies Unzufriedenheit, Stress und Krankheit. Aber jede Krise – egal ob gesellschaftlich oder individuell bedingt– kann zu einer wunderbaren und transformierenden Chance werden, um mich neu und bewusster zu orientieren.

Auch wenn ich ein tiefes Bedürfnis danach habe, dass im Leben immer alles klar und kontrolliert ist, dass ich das Licht am Ende des Tunnels immer sehen kann und ich schon die nächste Klinke in der Hand haben will, wenn sich eine Tür schließt: Zeiten der Verwirrung, der Orientierungslosigkeit und Unklarheit sind unausweichlich und wesentlich, damit sich Leben in seiner undurchschaubaren und unkontrollierbaren Weise, in seiner magischen und mystischen Art entfalten kann.

2) Spiritualität

„Wirklich bedeutet im spirituellen Sprachgebrauch das, was ewig ist, unveränderlich, unzerstörbar. Das ist der eigentliche Inbegriff von «Wirklichkeit».“ Bhagavad Gita

Authentisch gelebte Spiritualität bewirkt, dass mein Lebensglück nicht von äußeren Umständen abhängig ist, sondern dass die Quelle für Zufriedenheit und Freude von innen gespeist wird. Dabei ist Sein wichtiger als Haben, der gegenwärtige Moment wichtiger als Vergangenheit und Zukunft, Selbstbewusstsein wichtiger als Fremdbestimmung, Intuition wichtiger als Verstand, Vertrauen wichtiger als Sicherheitsbedürfnis, Kreativität wichtiger als blinder Glaube.
Spiritualität beginnt dann seine unberechenbaren Flügel zu öffnen, wenn ich nicht mehr auf die materielle und sinnliche Welt fixiert bleibe. In dem Moment, in dem ich – voller Vertrauen oder Verzweiflung – es wage, die Augen zu schließen und die visuellen Faszinationen und schillernden Oberflächen loszulassen, kann sich ein ganz neues Universum manifestieren: Dann kann ich jene ungewöhnliche Wirklichkeit bereisen, die grenzenlos, zeitlos und bedingungslos ist.

3) Körperbewusstsein

„Man soll dem Leib etwas Gutes bieten, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen.“ Winston Churchill

Der Gesundheitszustand meines Organismus, die Qualität meines Atems, die Kraft meiner Lebensenergie, der Schutz meines Immunsystems und die Ausdrucksweise meiner Köperhaltung spiegelt auf beeindruckende Weise meine innere Haltung und meine Lebenshaltung wider. Die Bewusstheit dieser komplexen Zusammenhänge, die Wahrnehmung der eigenen Befindlichkeit und das Vertrauen in die Selbstwirksamkeit verleihen mir wirksame und kreative Tools, um mit meinem Körper achtsam und heilsam umzugehen. Erst wenn der Körper, der Geist und das Herz beste Freunde werden und sich gegenseitig respektieren und unterstützen, werde ich mich darin als Gast auf allen Ebenen willkommen fühlen.

4) Ernährung

„Der Weg zur Gesundheit führt durch die Küche, nicht durch die Apotheke.“ Sebastian Kneipp

Ayurveda lehrt uns, wie wichtig die richtige Ernährung (Ahara) und das richtige Verhalten (Vihara) für ein ausgeglichenes Leben sind. Schlafen und Nahrungsaufnahme sind einer der wenigen Aktivitäten, die ich täglich verrichten muss. Was und wie ich esse hat einen unmittelbaren Einfluss auf mein körperliches, mentales und seelisches Befinden. Denn Nahrung ist nicht nur Genuss- und Lebensmittel; sie ist auch Heilmittel und Medizin.

Um Balance und Bewusstheit in mein Leben zu bringen, muss ich den Unterschied zwischen Lebens-Mittel und essbaren Substanzen kennen und spüren. Wenn ich aufmerksam Werbung, Supermärkte oder Speisekarten begutachte, dann werde ich merken, wie „Krankheits-Mittel“ und chemische Substanzen immer mehr Raum auf Kosten von „Prana-Mittel“ einnehmen. Das bedingt automatisch, dass unsere Lebensweise zunehmend unnatürlich wird.

Früher oder später sollte mir auch bewusst werden, dass wir nicht nur Nahrung, die wir über den Mund einnehmen, verdauen müssen, sondern auch jene Nahrung, die wir über die Sinne aufnehmen. Deswegen sollte auch hier eine achtsame Selektion höchste Priorität haben. Wenn ich mir vorstelle, wie viel unheilsamer und unverdaubarer Müll auf viele Menschen von morgens bis abends einströmt, dann wundert es mich nicht, wie schlecht es vielen von uns geht und wie leicht die Massen manipulierbar sind. Dagegen haben wir durch bewusste Nahrungsaufnahme tagtäglich die Möglichkeit, Gutes zu bewirken, sei es auf körperlicher, mentaler, familiärer, gesellschaftlicher oder globaler Ebene.

5) Gesundheit

„Wer tanzt wie eine Feder, brüllt wie ein Löwe
Wer weint wie der Regen und ruht wie die Nacht
Der hat die Länder seiner Seele durchschritten
Die hat gelebt geliebt gelacht und gelitten
ist dabei ganz geworden“ Ursula Seghezzi

Das grundlegende Wissen und die spürbare Erfahrung über Gesundheit geht in unserem stressigen Alltag, in unserer industrie- und mediengesteuerten Gesellschaft und durch die Entfremdung von der Natur zunehmend verloren. Eine achtlose und krankmachende Lebensweise, der unreflektierte Umgang mit Krankheit und Tod und die unkritische Abhängigkeit von moderner Medizin, schwächt meine Selbstwahrnehmung und Disziplin, mein Immunsystem und Wohlbefinden.

Ich kann im Leben nur zu einer ganzheitlichen Gesundheit und zu einer inneren Zufriedenheit gelangen, wenn ich mich nicht völlig von äußeren Faktoren abhängig mache, sondern wenn ich in erster Linie auf meine eigenen Ressourcen zurückgreifen kann. Auf diesem heilsamen und heilenden Weg muss ich Fremdsteuerung in Selbstwirksamkeit transformieren, Theorie in Praxis und Wissen in Weisheit.

Auf diesem Weg zur Lebensbalance sind meine wichtigsten Begleiter: Yoga und Ayurveda, Spiritualität und Meditation, Salutogenese und gesunde Lebensweisen, die bereichernde Gemeinschaft und das stille Alleinsein, die Kraft der Natur und des göttlichen Bewusstseins. Dabei können schon kleinste Veränderungen in meinem Leben spürbare Ergebnisse mit sich bringen und mir das Tor zu mehr Lebensfreude und Zufriedenheit öffnen.