„Die Menschheit ist bedingt durch Bedürfnisse. Sind diese nicht befriedigt, so erweist sie sich ungeduldig; sind sie befriedigt, so erscheint sie gleichgültig. Der eigentliche Mensch bewegt sich also zwischen beiden Zuständen.“ Johann Wolfgang von Goethe
Es gibt zehn Bedürfnisse des Menschen, die – wenn sie mehr oder weniger erfüllt sind – dafür ausschlaggebend, um Freude zu erfahren und ein durchwegs zufriedenes Leben zu führen. Jede davon ist bei jedem von uns etwas anders gewichtet. Werde diese nicht entsprechend erfüllt, dann zeigen sich eines oder mehrere von vier negativen Emotionen: Schmerz, Angst, Wut und/oder Trauer. Dieses Konzept bildet die Grundlage der „Gewaltfreien Kommunikation“ nach Marshall Rosenberg. Dadurch wird klar, warum Menschen auf Krisen – wie wir sie gerade zunehmend erleben – so unterschiedlich reagieren.
Hier werde ich auf jede eingehen, damit dir klar wird, welches die schwächsten dieser zehn Glieder sind. Dann kannst gezielt ansetzen, um dein Leben in eine positive und leidfreie Richtung zu transformieren.
Lebenserhaltung
Erst wenn mir ein sicheres Dach und vier Wände Sicherheit und Geborgenheit bieten, genug Kleidung mich vor Kälte und anderen widrigen Umständen schützt, mir ausreichend Nahrung und Medizin gegen Hunger, Schmerz und Krankheit zur Verfügung stehen, ist mir eine Not-wendige Lebensgrundlage gegeben. Erst durch dieses essentielle, aber nicht selbstverständliche Wohlbefinden können sich Lebensgenuss, Kunst, Ästhetik und der Luxus einer spirituellen Praxis entfalten.
Sicherheit
Vollkommen abgesichert durchs Leben zu gehen wird bei uns mehr denn je als ein Grundrecht und ein käufliches Gut missverstanden. Wie oft konnte ich dagegen in Asien beobachten, wie materiell arme Erwachsene und Kinder oft wesentlich mehr inneren Reichtum, Dankbarkeit und Lebensfreude ausstrahlen, als bei uns der wohlhabende Durchschnittsbürger.
Das Bedürfnis nach bekannter Sicherheit steht dem risikoreichen Freiheitsdrang diametral entgegen. Es braucht Neugier, über den Tellerrand zu blicken und Mut, die Schwelle in unbekanntes Terrain zu überschreiten … sei es in Bezug auf Wohnen, Beziehung, Beruf, Reisen, spiritueller Praxis, etc.
Liebe
In diesem Konzept wird Liebe nicht als Gefühl, sondern als ein Bedürfnis definiert, das mich mit Freude und Ekstase erfüllt, wenn ich sie als bedingungslos Gebender oder als offenherzig Empfangender erlebe. Metta im Buddhismus und Yoga hat erst dann eine transformierende Kraft, wenn sie nicht mehr von anhaftenden Ich- und Mein-Gedanken durchsetzt ist. Dabei ist Upeksha, was wörtlich „Gleich-Gültigkeit“ bedeutet, eine wichtige Grundlage.
Mitgefühl
Aus dieser nicht-anhaftenden Liebe wird sich auf ganz natürliche Art jene edle Haltung von Mitgefühl (Karuna) entfalten, die nichts mit herablassendem oder bedrückendem Mitleid zu tun hat. Dagegen ist eine Grundstimmung von Unfreundlichkeit, Gereiztheit, Gewaltbereitschaft und Schadenfreude ein eindeutiger Hinweis, dass in mir oder um mich herum etwas nicht in Balance ist.
Wahrhaftigkeit
Ahimsa (Gewaltlosigkeit) und Satya (Wahrhaftigkeit), die Grundlage der Yamas und damit des achtfältigen Yogapfades, repräsentieren „Alpha & Omega“ des Yoga: So wie Gewaltlosigkeit die Voraussetzung für meine Absichten und mein Denken, Reden und Handeln sein sollte, so sollte Liebe und Mut zur Wahrhaftigkeit der Weg und das Ziel sein. Dabei geht es hier nicht nur darum, weder sich selber – noch andere – zu belügen. Auf diesem transformierenden und nach innen führenden Weg geht es schlussendlich darum, klar zu erkennen, wer bin ich letztendlich – jenseits dieser vergänglichen Phänomene von Körper, Geist und Welt.
Gerechtigkeit
Jeder sehnt sich nach der einzig wahren „Gerechtigkeit“. Aber wie widersprüchlich und subjektiv diese sein kann, spiegeln uns unterschiedliche Zeitalter, Kulturen, Generationen, Individuen und Lebenssituationen wider. Was für mich jetzt absolut gerecht ist, erkennt ein anderer (oder ich selber zu einem anderen Zeitpunkt) als ungerecht. Was auf weltlicher Ebene unverdient erscheint, ist auf karmischer vielleicht die logische Frucht, deren Samen irgendwann einmal gesät wurde. Unter bestimmten Umständen muss ich mir die Frage stellen: „Will ich recht haben oder glücklich sein?“ …. Diese folgenreiche Entscheidung kann niemand für mich treffen.
Autonomie
Dieses Grundbedürfnis ist bei Menschen unterschiedlich ausgeprägt. Die einen sind deswegen im Leben so zufrieden, weil sie in der Partnerschaft, im Beruf, beim Besitz, beim Verhalten, bei der Gesundheit, im Leben und in ihrem Glauben für sich selber wenig oder gar nichts entscheiden müssen. Für andere bedeutet jegliche Art der Bevormundung eine Einschränkung des höchsten Lebensziels.
Zugehörigkeit
Von Natur aus ist der Mensch ein soziales Wesen und wenn jemand sich nichts und niemandem zugehörig fühlt, ist dies meist ein Zeichen einer tiefen psychischen Störung. Deswegen ist in allen Religionen und spirituellen Traditionen die Gemeinschaft von Gleichgesinnten ein ganz wesentlicher Bestandteil. Buddhisten nehmen nicht nur Zuflucht zum Buddha und seiner Lehre (Dhamma), sondern auch zu Gleichgesinnten. Im Yoga können Satsangs ein wesentliches Mittel sein, um in einer Gemeinschaft Hingabe und Wahrhaftigkeit zu erfahren.
Sinnhaftigkeit
Der Grund für ein zufriedenes Leben liegt nicht darin, wie leicht ich durchs Leben gleite, wie viele materielle Güter ich besitze, wie viele Genüsse ich erfahre, sondern wie viel Sinnhaftigkeit ich meinem Leben gebe: In all den unterschiedlichen Situationen und Phasen, vom Moment des Aufwachens bis zum Moment des Einschlafens, von der Wiege bis zum Grabe.
Deswegen zählt in der yogischen Philosophie Dharma (neben Grundbedürfnisse, Sinnesfreuden und Befreiung) zu einer der vier Schätze des Menschseins (Purusharthas). In Japan spricht man von Ikigai („Das, wofür es sich zu leben lohnt“), wenn sich vier Aspekte miteinander vereinen: Was liebe ich, was kann ich gut, wovon kann ich leben und was braucht die Menschheit.
Feiern
Das ist das letzte der zehn Bedürfnisse des Menschen. Wir Menschen gleichen einer dahinvegetierenden Masse, wenn wir keine bewusste Abwechslung und Höhepunkte in unseren Jahres-, Wochen- und Tages-Rhythmus einbauen. Wenn ich alles 24/7 erwerben kann und es keine „Feier-Abende“ und „Feier-Tage“ mehr gibt, wenn schon im Oktober damit begonnen wird, Weihnachten „zu verkaufen“, wenn Fastenzeiten ihre Bedeutung verlieren und materieller Überfluss als eine Selbstverständlichkeit gesehen wird, dann verflacht die Dankbarkeit und damit die besondere Freude für einzigartige Lebensmomente.
Erhabener Gleichmut
Auch wenn sich jeder von uns wünscht, dass alle diese zehn Bedürfnisse des Menschen erfüllt werden: Ich kann mein Leben und Schicksal nicht dazu zwingen, dass diese immer und überall der Fall ist. Aus einer spirituellen und yogischen Haltung heraus erkenne ich, dass keine Schwierigkeit und negative Emotion ein Problem ist, sondern eine einzigartige Chance, mich im Leben weiter zu entfalten. Gelingt es mir aufgrund meiner inneren Weisheit oder meines tiefen Vertrauens, mich in die Unsicherheiten des Lebens hinein zu entspannen? Dieser erhabene Gleichmut wird mich nicht nur vor den allzu menschlichen „Emotionsschleudern“ bewahren, sondern mir ein Leben offerieren, das von bedingungsloser Zufriedenheit und zeitloser Dankbarkeit getragen ist. Und dann bin ich in meinem Leben nicht nur von den Bedürfnissen des Menschen abhängig.
Kategorie: Leben & Alltag, Spiritualität & Philosophie, Yoga
Begriffe: Freiheit, Gelassenheit, Gemeinschaft, Lebenssinn, Liebe, Mitgefühl, Sinnhaftigkeit, Wahrheit