Donnerstag, 09 August 2018 08:15

Āsana als Meditationssitz

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Shiva blogEs ist nicht ungewöhnlich, dass Gesellschaften mit ihren Tendenzen die ursprüngliche Bedeutung von Begriffen verändern oder missinterpretierten. Auch wenn vor gut 2000 Jahren unter Yoga die Beruhigung der Gedanken verstanden wurde, so assoziiert man in unserer bewegten und schnelllebigen Zeit darunter oft Gymnastik, Workout oder Aerobic-Ersatz, verpackt in esoterische Sanskritnamen. Es ist auch nicht überraschend, wenn man heutzutage unter Āsana in erster Linie eine komplexe oder komplizierte Körperhaltung versteht, die man meist nur wenige Momente halten will oder kann.

Ursprung, Bedeutung und Wandel der wichtigsten yogischen Körperhaltung

In einer Konsumgesellschaft, in der Stillstand oft mit Unfähigkeit oder Rückschritt, Langeweile oder Angst assoziiert wird, vergessen wir manchmal, dass der Sanskrit-Begriff Āsana ursprünglich einfach nur die Bedeutung von „Sitz“ hatte. Schon immer haben Meditations-Meister und spirituelle Lehrer betont, dass äußere und innere Haltungen sich gegenseitig bedingen. Der Mensch ist eben nicht zufällig das einzige Wesen, das von Natur aus aufrecht stehen, gehen und sitzen kann … außer er hat es sich durch eine körperfeindliche, gestresste oder energielose Lebensweise abgewohnt – und das passiert immer häufiger schon in jungen Jahren.

Vor 2500 Jahren hat der Buddha in der Satipatthana-Sutta, einer der wichtigsten Lehrreden des Buddhismus, die Bedeutung der Meditationshaltung so beschrieben: „Da ist der Mönch in den Wald gegangen, an den Fuß eines Baumes oder in eine leere Behausung. Er setzt sich nieder, mit verschränkten Beinen, den Körper gerade aufgerichtet, die Achtsamkeit vor sich gegenwärtig haltend …“ (Dīgha-Nikāya 22). Einige Jahrhunderte später wird im buddhistisch geprägten Yoga-Sutra ähnliches angemerkt: „sthira-sukham-āsanam“ (2,29). Der Meditationssitz sollte einerseits stabil und aufrecht sein, um Gegenwärtigkeit und Achtsamkeit zu kultivieren. Andererseits sollte aber die Qualität von Sukha nicht verloren gehen - was entspannte Öffnung bedeutet, denn sie unterstützt Offenheit und Gelassenheit. Die Verbindung genau dieser Eigenschaften wird als Sattvaguna - innere Balance oder meditativer Zustand - bezeichnet.

Immer wieder höre ich im Yoga, dass man erst nach Körperübungen Meditation praktizieren kann oder soll. Das mag zwar für den einen oder anderen stimmen, aber man sollte dabei "die Kirche im Dorf lassen". Im Buddhismus wird Ethik als einzige Voraussetzung für die Meditation gesehen. Ähnlich wird in den acht Gliedern (ashtanga) des Patanjala-Yoga Ethik und Disziplin (Yamas und Niyamas) als Basis gesehen, um den Meditationssitz (Āsana) "in völliger Entspannung und in der Betrachtung des Unendlichen einzunehmen." (Yoga-Sutra, 2,47)

Beeinflusst durch die Gegenbewegung des diesseitsorientierten, körperbejahenden, genussfreudigen Tantrismus wurder erst ab dem Mittelalter die Bedeutung von Āsana auf verschiedene Körperhaltungen ausgedehnt. In der Hathayogapradipika, eine der bekanntesten klassischen Yogaschriften aus dem 14. Jahrhundert, werden zum ersten Mal 15 Positionen erwähnt, die allerdings alle am Boden eingenommen werden. Dort heißt es u.a.: „Siva lehrte 84 Āsanas. Von diesen sind die ersten vier die Unentbehrlichsten [und alle sind Sitzhaltungen]: Siddha (Vollkommen), Padma (Lotus), Sinha (Löwe) und Bhadra (Glück). Davon ist Siddhasana sehr bequem. Man sollte es immerzu üben […] denn es ist der Schlüssel zum Tor der Erlösung.“ (HYP 1, 33-34)

Um den ungenauen Umgang von Definitionen der früheren Yoga-Texte zu verdeutlichen, möchte ich auch noch die folgenden Verse zusammenfassend zitieren: „Einige nennen Siddha-asana Vajr-asana (Diamant), andere Mukkta-asana (Befreiung) oder Gupta-asana (Versteck). Genau wie einfache Nahrung unter den Yamas (Ethik) und Ahimsa (Gewaltlosigkeit) unter den Niyamas (Disziplin), so ist Siddhasana von den Kennern als das Oberhaupt der Asana bezeichnet worden.“ (HYP 1, 36,38,39) Nebenbei bemerkt werden hier Yamas und Niyamas anders definiert als im 1000 Jahre älteren Yoga-Sutra von Patanjali.

Noch bevor ich wusste, wie viel Bedeutung Siddhasana einst beigemessen wurde, habe ich mir angewöhnt,  die meiste Zeit in dieser Haltung am Boden zu sitzen – egal ob bei der Meditation oder einfach zur Entspannung. In einer genialen Art werden dabei die Füße, Knöchel und Beine wie Puzzlesteine ineinander gefaltet, so dass man ohne Druckschmerzen mühelos längere Zeit darin verweilen kann; allerdings nur, wenn die Unterlage weich und die Gelenke geschmeidig genug sind. Dagegen rate ich vom gerne fotografierten und geposteten Padmasana ab, da auch bei offenen Hüften beide Kniegelenke aus ihrer natürlichen Scharnierbewegung zu extrem herausgedreht werden, und die Fußgelenke ebenfalls einer extremen Dehnung ausgesetzt sind. Es ist wahrscheinlich (neben Kopfstand, Schulterstand und Pflug) einer jener Ehrgeizpositionen, die am meisten Verletzungen verursachen. So hatte ich mir vor Jahren aus dümmlichem Übermut beide Knie für lange Zeit beschädigt.

Die Essenz einer physischen Hatha-Yogapraxis sollte die Ausrichtung der Wirbelsäule sein, und die ist in erster Linie durch die Beckenposition bedingt. Deswegen kann man auch bei einer Sitzhaltung das Becken mit einem Blumentopf vergleichen, aus dessen fruchtbarer Erde das Pflänzchen in Form der Wirbelsäule natürlich herauswächst - gegen die Schwerkraft in Richtung Kosmos. Ähnlich wie beim Springbrunnen sollte dabei die Energie entlang der Wirbelsäule nach oben strömen und in der Perifere (Schulter und Arme) mit der Schwerkraft nach unten sinken. Eine Haltung mit Rundrücken mag sich zwar kurzfristig entspannt anfühlen, schränkt aber das Zwerchfell, die Lungen und andere Organe in ihrer natürlichen Funktion ein, wodurch die Energie nicht frei fließen kann. Um das Becken und damit die Körperhaltung besser ausrichten zu können, ist es hilfreich, wenn die Sitzunterlage mindestens auf derselben Höhe wie die Knie positioniert wird.

Da vom vielen Sitzen auf Stühlen und im Auto unsere Hüften oft ihre natürliche Gelenkigkeit verloren haben, kann es hilfreich sein, sich auf einem Meditations-Bänkchen niederzulassen. Aber es ist beim Meditieren gar nicht unbedingt notwendig am Boden zu sitzen. Sich mit gerader Wirbelsäule an eine Wand anzulehnen oder auf einem Stuhl aufrecht zu sitzen, kann Wunder wirken, um schmerzfrei in einen meditativen Zustand zu kommen, in dem die grobstoffliche Körperempfindung transzendiert wird. Aus eigener Erfahrung betone ich im Unterricht immer wieder, dass eine stimmige Haltung die halbe Miete der Meditation abdeckt.

Sri Ramana Maharshi, der im letzten Jahrhundert als Jnana-Yogi weit über Indien hinaus verehrt wurde, antwortete einmal auf die Frage „In welchem Āsana er gewöhnlich sitzt?“:
„Im Āsana des Herzens. Wo immer es angenehm ist, da ist mein Āsana, das nennt man Sukhāsana.  Das Āsana des Herzens ist friedvoll und macht glücklich. Wer dort sitzt, bedarf keiner weiteren Āsanas.“
Und an anderer Stelle sagte er über die richtige Einstellung zur Haltung: „Āsana soll einem Menschen festen Sitz geben. Wo - außer in seinem eigenen wahren Zustand - kann er fest gegründet sein? Das ist wirkliches Āsana. Wichtig ist die Beständigkeit der Erkenntnis, dass die Basis (Āsana), auf der das ganze Universum ruht, das Selbst ist. Es allein ist der Ort wahrer Erkenntnis und die feste und bewegungslose Haltung (Āsana) für den wahren Samādhi.“ (aus „Sei was du bist!“, Ramana Maharshi).

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