Freitag, 09 März 2018 06:33

Work-Life-Balance: Kunst od. Zufall?

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KarmaManchmal werde ich darauf angesprochen, wie es mir jedes Jahr gelingt, eine mehrmonatige Auszeit zu nehmen. Auch wenn diese Frage berechtigt ist, klingt sie für mich dennoch etwas ungewöhnlich, denn ich könnte mir ein „work-around-the-year-life“ gar nicht vorstellen. Um auch künftig diesem „Schicksal“ entgehen zu können, frage ich mich immer wieder bei wichtigen Berufs- und Lebensentscheidungen: „Arbeite ich um zu leben, oder lebe ich um zu arbeiten“?

Bindende Sicherheit oder lebendige Freiheit?

Mehr als die Hälfte meines Erwachsenenlebens habe ich auf einem anderen Kontinent verbracht, und es ist schon gute 30 Jahre her, dass ich einen ganzen Winter in meiner Heimat erlebt hatte. Durch diese Erfahrungen kann ich dem Psychophysiologe Stephen LaBerge vom ganzen Herzen zustimmen, wenn er schreibt: „Reisen erweitert den Geist, weil es den Menschen in neue und herausfordernde Situationen außerhalb der normalen und gewohnten Welt bringt."

Digitaler Normade und spiritueller Reisender

Einerseits zieht es mich - wie die Zugvögel – alle Jahre wieder in wärmere Gefilde; andererseits brauche ich einfach Pausen von den üblichen Veranstaltungsterminen und Deadlines. Wenn ich drei bis vier Monate im Jahr mit Rucksack und Laptop in fremden Ländern und Kulturen Asiens unterwegs bin, wird mir jedes Mal bewusst, wie wenig nötig ist um Fülle und Dankbarkeit erfahren zu können. Da aber meine Auszeit wenig mit Abhängen am Strand und Abklappern von Attraktionen zu tun hat, fühle ich mich nicht als konventioneller Tourist, sondern als „digital normade & spiritual traveller“. Dem digitalen Fortschritt und meinem aufklappbaren Büro - mit Blick auf Reisfeldern, Palmen oder Meer – verdanke ich, dass ich aus dem fernen Osten meine Veranstaltungen zu Hause organisieren, meine Webseite auf den neuesten Stand bringen und die Muse zum Schreiben finden kann.

Bindende Folgen

Der selbstverständliche Luxus

„Der Traum vom besseren Leben fesselt die Menschen ans Elend. […] Wie viele junge Menschen haben nicht nach dem Studium eine Stelle in einem großen Unternehmen angenommen und sich geschworen, sie würden ein paar Jahre ordentlich ranklotzen, Geld auf die hohe Kante legen und mit vierzig den Job an den Nagel hängen, um ihren wahren Interessen nachzugehen? Aber wenn der vierzigste Geburtstag naht, haben sie eine Hypothek und schulpflichtige Kinder am Bein und meinen, ohne Mercedes und Bordeaux nicht mehr leben zu können. […] sie kämpfen um eine Beförderung und strampeln sich weiter ab.“ In seinem genialen Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ schreib Yuval Harari weiter: „Einer der ehernen Gesetze der Geschichte lautet, dass ein Luxus schnell zur Notwendigkeit wird und neue Zwänge schafft. Sobald wir uns an einen Luxus gewöhnt haben, Verkommt er zur Selbstverständlichkeit. Erst wollen wir nicht mehr ohne ihn leben, und irgendwann können wir es nicht mehr“.

No risk – no fun!

Ich könnte nie einer Arbeit nachgehen, bei der ich nicht großteils selber bestimmen kann, unter welchen Umständen ich wie viel und was arbeite. Auch wenn meine ungezählten Überstunden als Freiberufler nicht bezahlt werden und ich nie sicher sein kann, ob am Ende des Jahres oder eines Arbeitslebens unterm Strich genug Kohle übrig bleibt, ist mir diese Freiheit dennoch wichtiger als Sicherheit. Ganz nach dem Motto: „No risk – no fun!“. Ich hatte nie den Wunsch Kinder mit all den dazugehörigen Leidenschaften in die Welt zu setzen. Ich lebe in einer sehr gemütlichen, pflegeleichten und überschaubaren Wohnung ohne Garten und Haustiere und mit Gegenständen, die es nicht wert sind, gestohlen zu werden. Deswegen ist es für mich so unkompliziert, die Wohnungstüre abzusperren und mich irgendwo fern der Heimat und sorgenfrei zu Hause zu fühlen.

Der tägliche Balanceakt

Der beliebte Begriff von „Work-Life-Balance“ ist etwas irreführend, denn Arbeit ist sowieso nicht ohne Leben möglich, und ein Leben ohne Arbeit gibt es nur im Schlaraffenland. Dennoch braucht ein erfülltes Leben die sich ergänzenden Komponenten: Wachheit und Schlaf, Anstrengung und Entspannung, Fasten und Essen, Genuss und Disziplin, Verantwortung und Losgelöstheit, Stille und Bewegung, Liebe und Widerstand, Akzeptanz und Veränderungsdrang. Es ist ein täglicher Balance-Akt, diese gegensätzlichen Pole abgestimmt auszuleben und auszugleichen. Schaffen wir das nicht, werden wir früher oder später den Fluss und die Leichtigkeit des Lebens verlieren und erkranken …. So wie der englische Ausdruck ‚dis-ease‘ das unmissverständlich zum Ausdruck bringt.

Die 80-20-Regel

Ist mir eine Work-Life-Balance ein Anliegen, dann sollte ich mir das Paretoprinzip oder die 80-zu-20-Regel unter entsprechenden Umständen Erinnerung rufen, um mich nicht in unnötige Details zu verlieren. Denn Vilfredo Pareto (1848–1923) erkannte, dass 80 % der Ergebnisse mit 20 % des Gesamtaufwandes erreicht werden können. Die verbleibenden 20 % der Ergebnisse benötigen dagegen mit 80 % die meiste Arbeit; und die könnten dafür Verantwortlich sein, dass ich meine Lebenslust und Mitte verliere.

Too Lazy for Success : )

Weil es mir zu wichtig ist, ein Viertel des Jahres meine „Unterrichtsuniform“ an den Nagel zu hängen, wird sich für mich "rich & famous" in diesem Leben nicht mehr ausgehen. Das Angebot am Yoga- und Meditationsmarkt mittlerweile so groß, dass meine Abwesenheit eh kaum auffällt. Außerdem kann ich dabei gut beobachten, wie stark ich mich mit meiner Rolle als Lehrer identifiziere, und ob mein Unterricht tatsächlich für die Teilnehmer ist, oder mein Ego das Feedback der Schüler braucht. Dass Ehrgeiz oder Bedürftigkeit schon einige Yogalehrer aus der Work-Life-Balance geschleudert und in den Burnout getrieben hat, ist mittlerweile weder ein Geheimnis noch ein Tabu.

Zum Foto: Dieser Spruch ist in einem herrlichen balinesischen Massage-Spar zu lesen.

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