„Nie hatte die Welt ‚Lehrmeister der Stille‘ nötiger als heute, und gerade heute findet man sie seltener denn je…“, bemerkte Tiziano Terzani in seiner Einsiedelei im Himalaya.
Wir leben in einer Welt, in der die Intensität und Schnelligkeit von Eindrücken rasant zunimmt; und proportional dazu verstärkt sich der Wettlauf gegen die Langeweile und die Sucht nach „fun & action“. Viele haben sich mittlerweile so sehr an eine Berieselung gewöhnt, dass sie Musik nicht nur zu Hause, im Auto oder bei der Arbeit ununterbrochen hören, sondern auch beim Yoga unter keinen Umständen darauf verzichten wollen.
Vielleicht haben wir sogar die Befürchtung, dass die Welt untergeht, wenn wir nicht täglich die Nachrichten schauen, und dass das Socialnetwork zusammenbricht, wenn wir nicht den neusten Web-Tratsch auf Facebook weiterleiten. Sind wir schon so süchtig nach Unterhaltung, dass sich ein paar Minuten ‚Nichts-Tun‘ wie ein Drogenentzug anfühlt? Und das ist vielleicht auch ein Grund, warum Innehalten, Loslassen und Nach-Innen-Lauschen in Yogastunden so wenig Zeit und Raum gegeben wird. Vom Aufwachen bis zum Einschlafen – und sogar in unseren Träumen – werden wir wie ein Esel mit Zuckerbrot und Peitsche durchs Leben getrieben. Erst der so heilsame Tiefschlaf versetzt uns in einen Zustand, in dem wir uns als Persönlichkeit mitsamt der Welt auflösen, und trotzdem – oder gerade deswegen – in eine unbeschreibliche und bedingungslose Glückseligkeit (Ananda) eintauchen.
Wieviel spirituelle Transformation können wir eigentlich vom Yoga erwarten, wenn wir uns dabei mit der gewohnten Konsumhaltung in erster Linie auf die körperliche Ebene beschränken, und uns auf die feineren Aspekte unseres Wesens nur als Nebenschauplatz oder indirekt beziehen? Ich sehe meine Aufgabe als Yogalehrer u.a. darin, die Gedanken- und Aktionsgeschwindigkeit zu entschleunigen, bewusster zu machen und damit auch zu relativieren. Deswegen geht es mir nicht darum, die geilsten Yogapositionen zur chilligsten Musik in der Rolle eines Entertainers zu präsentieren, sondern einen Rahmen für eine sinnliche Diät (Pratyahara) zu schaffen. Dieser nicht sehr populäre Aspekt des Yoga ist die unumgängliche Voraussetzung, um unsere essentielle Stille erfahren zu können.
Dr. Robert Svoboda, einer der herausragendsten Kenner indischer Philosophie, hat das Dilemma zwischen moderner Yoga-Gymnastik und Patanjalis ursprünglicher Idee einmal so formuliert: “Im Yoga geht es heutzutage ausschließlich um große Bewegungen, aber Patanjali ging es um kleine Bewegungen; denn er betonte, dass im Yoga die Aufmerksamkeit nicht in die äußere Welt (pravritti) gelenkt wird, sondern nach innen (nivritti).“
Ein wichtiger Schritt auf dem spirituellen Weg ist, zwischen äußerem und innerem Lärm unterscheiden zu können. Erst dann können wir erleben, dass Ruhe bloß die Reduktion von (oder Flucht vor) Sinneseindrücken ist. Stille bedeutet dagegen, dass der Gedankenlärm so leise wird, dass ein feines Lauschen mit dem Herzen möglich ist. Dazu ist eine Läuterung, d.h. eine Veredelung des Geistes ‚Not-wendig‘. Im Yoga nennen wir diesen Prozess und das Resultat Sattva-Guna. Diese Not-wendige Transformation wird erst dann stattfinden, wenn es uns gelingt, das Grobe und Unbewusste von Tamas, und das Laute, Rastlose und Zielstrebige von Rajas zu transzendieren.
Wir alle wissen, dass körperliche Ruhe noch lange nicht innere Stille bedeutet. Andererseits kann aber bewusste Körperbewegung die Gedankenbewegung reduzieren. Hatha-Yoga – wenn richtig ausgeführt – bewirkt nicht nur körperliches und energetisches Wohlbefinden; er wird manchmal zurecht auch als ‚Meditation in Bewegung‘ bezeichnet. Aber wir sollten aus einer mentalen Not keine yogische Tugend machen. Statt dass wir Gedanken und Emotionen ehrlich und mutig erkennen, was sie wirklich sind, neigen wir dazu, sie durch geistige und körperliche Betätigungen unter den mentalen Teppich zu kehren. Das kann zwar angenehm (und zu Zeiten auch wichtig) sein, ist aber letztendlich nur eine temporäre Lösung. Erst wenn wir durch meditative Einsicht erfahren, dass wir eigentlich gar nicht ‚unsere‘ Gedanken und Emotionen sind, kann bedingslose Stille und Entspannung einkehren.
Es ist übrigens interessant, dass sich in ruhiger Atmosphäre unsere Gedanken oft viel intensiver und lauter bemerkbar machen; andererseits kann es passieren, dass wir in einer lärmigen Umgebung unerwartet still und friedlich werden können. Sollten wir uns als Yoga-Praktizierende nicht öfter bewusst werden, dass – trotz den unzähligen Trends – Yoga einst einfach als Beruhigung der Gedankenbewegungen (yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ) verstanden wurde.
Robert Adams hatte dies in unserer schnelllebigen Zeit einmal so ausgedrückt: „Wenn dein Verstand laut ist, reflektiert er Chaos, Verwirrung. Wenn er still und ruhig ist, reflektiert er deine Göttlichkeit.“
Weitere Zitate zu „Stille & Lärm“:
„Die Natur reicht uns die Hand der Freundschaft, sie lädt uns ein, damit wir uns an ihrer Schönheit erfreuen; doch wir fürchten ihre Stille und fliehen in die Städte, wo wir uns zusammendrängen wie eine Herde Lämmer beim Anblick des Wolfes.“
Khalil Gibran (1883 – 1931)
„Es lohnt sich, geduldig zu beobachten, was in der Seele im Stillen geschieht, und es geschieht das Meiste und Beste, wenn es nicht von außen und oben hineinreglementiert wird. Ich gestehe es gerne: Ich habe eine solche Hochachtung vor dem, was in der menschlichen Seele geschieht, dass ich mich scheuen würde, das stille Walten der Natur durch täppische Zugriffe zu stören und zu entstellen.“
C.G. Jung (1875 – 1961)
„In der Stille angekommen gehe ich in mich, stehe ich zu meinen Stärken und Schwächen, liegen mir mein Leben und die Liebe am Herzen.
In der Stille angekommen, sehe ich mich, dich, euch und die Welt mit anderen Augen, mit den Augen des Herzens.
In der Stille angekommen, höre ich auf mein Inneres, spüre ich Geborgenheit, lerne ich Gelassenheit,
tanke ich Vertrauen.“
Ernst Ferstl (Österr. Schriftsteller, Geb.1955)
„Unsere westliche Kultur wird vom Wort beherrscht. Wir können uns in eine Kultur des Schweigens und der Stille kaum hineindenken. Oft sind wir wie vom Wort besessen, voller Angst vor all dem, was sich nicht in Worte fassen lässt. Und doch ahnen wir, dass das »erlösende Wort« aus dem Schweigen kommen muss. Ja, wir ahnen sogar, dass Wort und Schweigen untrennbar zusammengehören, dass an echten Worten die Stille das Wesentliche ist. Wir haben keine Schwierigkeit, zwischen einem bloßen Wortwechsel und einem Gespräch zu unterscheiden. Was an einem echten Gespräch wichtiger ist als die Worte, ist die Bereitschaft, uns von den Worten in jene Stille führen zu lassen, aus der sie auf uns zukommen. Darum münden die tieferen Gespräche in gemeinsames Schweigen.“
David Steindl-Rast (Geb. 1926)
Kategorie: Leben & Alltag, Meditation, Spiritualität & Philosophie, Yoga