„Unser Zuhause ist da, wo unsere Geschichte geschrieben wird, und es hat das Potential, unsere Erfahrungen des Alltäglichen zu bereichern.“
Beth Kempton

Früher oder später werden wir uns im Leben die Frage stellen: Spirituelles Zuhause – wo bist du? Und diese Frage bezieht sich direkt und indirekt auf die geographische Heimat.

Krise als Weckruf

Wenn vieles im Leben nach Plan und Erwartung läuft, dann leben wir in den Alltag hinein, lassen die Jahre und Jahrzehnte verstreichen, stellen keine essentiellen und kritischen Fragen, lassen uns mit dem Strom mittreiben und sind irgendwann überrascht, wenn alles sich dem Ende zuneigt und wir weder bei uns noch sonst irgendwo Erstrebenswertem angekommen sind.

Es braucht manchmal innere oder äußere Krisen, eine heftige Erschütterung, eine Ent-Täuschung, eine Ver-rücktheit oder eine Entwurzelung, damit wir die scheinbare „Normalität“ in Frage stellen und uns wichtige Fragen zum Leben stellen: Wo sind meine Wurzeln, wo bin ich zu Hause und wohin drängen und ziehen mich meine Träume?

Die Aufgabe von Yoga und Religion

Für mich ist die eigentliche und sogar wesentlichste Aufgabe von Yoga, Spiritualität und Religion, mich bei diesem menschlichen und transpersonalen Prozess zu unterstützen:

„Mit dem Körper den Körper transzendieren, mit dem Atem über den Atem hinaus und mit dem Geist die Loslösung vom Geist bewirken, mithin die Selbst-Befreiung von allen Gunas, um einzugehen in den großen Ozean des Seins – nichts weniger als das ist das fundamentale Programm des Yoga. [….] Würden wir die Jahrtausende alten Texte einer fremden Kultur und Zivilisation heute noch studieren, wenn es darin nur um physische Atem-Praxis und körperliche Gesundheit ginge? Wären Buddha, Laotse, Patanjali oder Jesus so wirkungsmächtig geworden, wenn sie uns bloß körperliche Übungen und Gesundheitsratschläge gegeben hätten? Was all diese Weisen und Erleuchteten verbindet, ist das große Ziel, auf welches sie mit jedem Wort hindeuten – auf den absoluten und erlösenden inneren Frieden, nach dem unsere Seele sich seit Äonen sehnt.“
(
aus „Pranayama“ von Ralph Skuban)

Frühe Entwurzelung und Fernweh

Einen großen Teil meines Lebens habe ich weder in eigenen vier Wänden noch in meiner Heimat gelebt. Diese Art Entwurzelung begann schon im Alter von zehn Jahren, als ich in ein Internat kam. Dadurch habe ich schon sehr früh begonnen, mein Wohlbefinden nicht von bestimmten Menschen und Orten abhängig zu machen, sondern in mir selber heimelige Räume zu suchen und zu finden. Und sobald ich meine schulischen und bürgerlichen Pflichten erfüllt und „Reifeprüfung“ und Zivildienst abgeschlossen hatte, zog ich in die weite Welt. Ohne Internet und digitaler Kontrolle erschien mir diese damals unerforschter und grenzloser als heute.

Ich lebte in Aussteiger-Kommunen und auf alternativen Farmen in den USA, in der Wüste Mexikos und im Urwald von Mittelamerika. Auch wenn sich die äußeren Umstände änderten, blieben meine ständigen Begleiter und Zufluchtsorte spirituelle Bücher, die meinem ungewissen Leben eine Richtung gaben und immer wieder auf ein bedingungsloses, zeitloses und undefinierbares Zuhause hinwiesen: Erich Fromm, Henry David Thoreau oder Suzuki Roshi waren dabei meine „gedruckten Lehrmeister“.

Wer die Enge seiner Heimat ermessen will, reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte.“ Kurt Tucholský

Asketische Lehrjahre

Nach zwei lehrreichen Wanderjahren war ich zurück in der zwar bekannten, aber für mich sich eigenartig anfühlenden Heimat. Ich spürte weder Halt noch sah ich einen Sinn in der vorhandenen Tradition, Kultur und Lebensweise. Doch in der Welt des Buddhismus fand ich Zuflucht. Dabei faszinierte mich speziell die Richtung des Theravada, der die ursprüngliche Lehre des Buddha am ehesten wiedergab. In dieser Phase der „early midlife crisis“ wurde mir bald klar, dass die von ihm gepriesene „Hauslosigkeit“ und das Mönchsein mein Strohhalm in der stürmischen See waren. Ich brach alle weltlichen Bindungen ab, ließ meine bekannte Heimat zurück, reiste in den unbekannten Fernen Osten und verschrieb mich einem asketischen Leben.

Als Mönch und temporärer Einsiedler liebte ich damals „meine“ abgeschiedenen und nur von Wildnis umgebenen Höhlen und Waldhütten. Diese prägende und transformierende Lebensphase dauerte – genau wie meine Schulzeit – ein Dutzend Jahre. Allerdings war es doch etwas gewöhnungsbedürftig (und ist es zeitweise bis heute), als ich mit 39 Jahren zum ersten Mal richtig gemauerte vier Wände ganz offiziell mein Eigentum nennen durfte und meine Nachbarn keine Affen oder Schlangen waren.

Spirituelles Zuhause im Herzen

Nachdem ich mich in meinem Leben an so vielen unterschiedlichen Plätzen für kürzere oder längere Zeit niedergelassen hatte, wurde mir mit der Zeit klar, dass ein materielles Zuhause zwar eine wichtige Basis für das Lebensglück sein kann. Aber solange ich nicht realisiere, dass die innere Zufriedenheit und die Lebensfreude in erster Linie davon abhängen, wie sehr ich in mir Zuhause bin, werde ich an der falschen Stelle investieren, renovieren und ausbauen.

Unseren Lebensmittelpunkt definieren wir als unser Zuhause. Interessanterweise wird „Herz“ im Sanskrit mit Hridayam übersetzt, was wörtlich „Das Zentrum“ bedeutet. Unser eigentliches Zuhause liegt in unserer seelischen Mitte verborgen, wo uns keine äußeren Umstände, kein gebrechlicher Körper, keine schmerzlichen Gedanken und keine zerrinnende Zeit beschränken.

„Zu welchem Ufer willst du gelangen, mein Herz? Es gibt keinen Weg und niemand, der dir vorangeht. Was heißt schon Kommen und Gehen? An jenem Ufer kein Boot, kein Fährmann und nichts um das Boot zu verankern. Da gibt es weder Himmel noch Erde, weder Zeit noch irgendein Ding, kein Ufer und keine Küste. Bedenke es wohl, mein Herz! Geh nicht anderswohin.“ Kabir

Zwar sind in der Mystik des Abendlandes esoterische Betrachtungen nicht unbekannt. Jesus selbst hat gesagt „Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nähret sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie?“ (Matthaeus 6:26). Allerdings ist in unserer konsumorientierten und sicherheitsfanatischen Gesellschaft so ein Grundvertrauen ins Leben kaum noch vorhanden, geschweige denn erstrebenswert.