„Ich habe drei Schätze, die ich hüte und mir bewahre:
Der erste ist die Liebe.
Der zweite heißt Genügsamkeit.
Der dritte ist, nie der Erste sein wollen.“

Tao Te King, Vers 67

Ver-rückte Zeiten

Wir leben in einer Gesellschaft, die dicht mit existenziellen Ängsten und ehrgeizigen Zielen bepackt sind. Viele hetzen rastlos und orientierungslos mit zu viel Wollen und zu viel Action durchs Leben; sie suchen dabei äußere Sicherheiten und verlieren innere Freiheiten. Der rasant fortschreitende Fortschritt verspricht zwar Wohlstand und Wohlbefinden und dennoch scheint vieles immer komplizierter und undurchsichtiger zu werden… und das meist auf Kosten von einfachen Freuden, stillen Momenten und einer natürlichen Zufriedenheit.

Esotainment

Diese weltliche Ruhelosigkeit beeinflusst und verdrängt naturgemäß auch jene Bereiche unseres Lebens, in denen wir durch Religion, Spiritualität und Esoterik nach innerer Ruhe, nach einem tieferen Sinn und nach den zeitlosen Schätzen des Lebens suchen. Wenn uns jedoch bei dieser notwendigen Sehnsucht eine gewisse Erdung, eine intuitive Anbindung und ein nährendes Umfeld fehlt, können wir leicht Opfer von sektenhaften Institutionen oder oberflächlichen „Esotainments“ werden. Diese Wortkombination aus Esoterik und Entertainment verdeutlicht, was heutzutage – speziell über die Sozialen Medien – so alles am „spirituellen Markt“ schrill und eindrucksvoll von allen möglichen Experten, Meistern, Gurus und Heilsbringern angeboten wird.

Persönliche Erkenntnis

Ich weiß nicht, ob es an meinem zunehmenden Alter liegt oder an den überbordenden Angeboten: Aber mein Bedürfnis dabei mitzumachen und mitzuschwimmen schwindet zunehmend. Gleichzeitig nimmt die Erkenntnis zu, dass weniger und langsamer letztendlich bereichernd ist und Stille mehr Klarheit bewirkt. Dabei dienen mir immer wieder die zeitlosen, einfachen und tiefen Wahrheiten der taoistischen Lehre als hilfreiche Wegweiser; gerade in Zeiten, in denen es mir an Orientierung fehlt oder die gesellschaftlichen und politischen Stimmungen einem unruhigen Meer mit unberechenbaren Strömungen gleicht.

„Ich habe drei Schätze, die ich hüte und mir bewahre“

Im Gegensatz zu fast allen Religionsbegründern und Heilslehrern, wird von den zwei bekanntesten taoistischen Weisen – Lao Tze und Chuang Tzu – weder behauptet, dass sie erleuchtet waren, noch dass sie zur Göttlichkeit einen direkten Draht gehabt hätten. Es ging ihnen auch nicht um übermenschliche oder himmlische Zustände, die wir vielleicht irgendwann einmal durch strenge Moral, harte Praxis und blinden Glauben erreichen können. Bei ihnen stehen jene alltagsbezogenen und zeitlosen Weisheiten im Vordergrund, die wir unmittelbar in unserem Leben integrieren können, falls wir diese für stimmig und sinnvoll erachten. Aber – und das ist der große Unterschied zu vielen anderen religiösen und spirituellen Traditionen – ohne der Mentalität von Zuckerbrot & Peitsche, ohne „Du musst“ oder „Du darfst nicht“ und ohne den psychologischen Spielen mit „Über-Ich“ und „schlechtem Gewissen“. Damit wurde die Menschheit seit Jahrtausenden und viele von uns seit ihrer Kindheit manipuliert und traktiert (und werden).

Tao Te King

Der nach der Bibel meistübersetzte Text Tao Te King handelt von der Lehre des „Weges“ (Tao) als grundlegendes Prinzip des Universums, das durch Einfachheit, Natürlichkeit und Nichtstun (Wu Wei) zum harmonischen Leben führt. Der Legende nach sind uns diese philosophischen Schätze eher zufällig überliefert worden. Denn „der alte Weise“ – so die wörtliche Bedeutung von Lao Tze – hatte sich scheinbar nicht berufen gefühlt, seine persönlichen und universellen Erkenntnisse an die große Glocke zu hängen. Den Ursprung seiner nur 81 Verse umfassenden Lektüre beschreibt Berthold Brecht in seinem 1938 im Exil geschriebenen Gedicht: „Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“
„Als er siebzig war und war gebrechlich
Drängte es den Lehrer doch nach Ruh
Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich
Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.
Und er gürtete den Schuh.“

Einige Sinologen vermuten, dass das Buch von Anhängern oder verschiedenen Autoren verfasst wurde und dem Lao Tze als ehrendem Namensgeber zugeschrieben wird. Schon in der Entstehungsgeschichte wird deutlich, dass einer, der den taoistischen Weg geht, weder einem eifrigen Missionar noch einem politischen Kämpfer gleicht. Wenn die Umstände sich nicht mehr stimmig anfühlen – egal ob aus politischen oder persönlichen Gründen – dann ist der richtige Zeitpunkt gekommen, weiterzuziehen. Dabei nimmt der Taoist das Wasser als Vorbild, das ganz natürlich jedes Hindernis umfließt. Und dabei spielt auch jenes unerschütterliche Selbstbewusstsein eine Bedeutung, das sich in diesem Spruch eines griechischen Philosophen wiederspielgelt: sapiens omnia sua secum portat: „Der Weise trägt all das Seinige mit sich.“

Der erste Schatz ist die Liebe

Liebe wird im Taoismus u.a. ungewöhnlicherweise so definiert :
1) Akzeptanz
2) Sich um seinen Nächsten kümmern
3) Einfachheit

1) Akzeptanz verbindet die Weichheit von Gelassenheit und die Wärme von Bedingungslosigkeit miteinander.
„Um mich selbst zu beherrschen, muss ich mich zunächst selbst akzeptieren, indem ich mit meiner Natur gehe und nicht gegen sie.“ So der legendäre chinesisch-amerikanische Kampfkünstler, Philosoph und Filmemacher Bruce Lee (1940–1973).

2) Empathie: Auch wenn wir das oft im wahrsten Sinne des Wortes übersehen: Der wichtigste Mensch in meinem Leben ist nicht unbedingt der, den wir am meisten lieben, sondern jener, dem ich in diesem einzigartigen Moment gerade begegne. Und die große Kunst dabei ist, eine wohlwollende und aufmerksame Haltung einzunehmen, die aber nicht von einer Naivität geprägt ist, denn einigen Menschen sollte man tatsächlich lieber aus dem Weg gehen.

3) Einfachheit: Vielleicht erscheint es ungewöhnlich, dass Liebe mit Einfachheit in Zusammenhang gebracht wird. Doch gerade in Zeiten, wo alles scheinbar immer komplizierter wird und jede Empfindung definiert werden will, lässt sich die Kunst des Liebe in ihrer unbeschreiblichen Einfachheit nicht erfassen.
„Wir können nicht wissen, was Liebe ist. Sie niemals zu kennen und dennoch ihre Schönheit zu spüren, ist das Wunder an ihr. Sie ist da. Sie ist eine Tatsache. Und wir können ihr im Tod des Gestern und der Ungewissheit des Morgens begegnen. Dann wird ersichtlich, dass Liebe nicht erlangt werden kann, weil sie eine Dimension unseres Selbst ist.“ („An der Quelle des Tao“, 2012, Theo Fischer, S 99)

Der zweite Schatz heißt Genügsamkeit.

Der menschliche Geist scheint von Natur aus ein getriebener und unzufriedener zu sein. Mit allen nur möglichen Mitteln und Tricks laufen wir oft einer edlen Vision oder einer dummen Schnapsidee nach. Haben wir diese dann irgendwann hoffentlich endlich erreicht, dauert es nicht lange, bis das Glück des Erfolgs verblasst und wir uns die nächste Karotte einbilden, der wir dann mit voller Leidenschaft oder mit strenger Disziplin nachlaufen.

Diese menschlichen Lockmittel beziehen sich auf alle nur denkbaren Bereiche: Beziehung, Körper, Alltag, Urlaub, Luxus, Kunst, Kultur, Wissen etc. Allerdings ist der religiöse, spirituelle und esoterische Bereich davon nicht ausgeschlossen … ganz im Gegenteil: Das sind oft die hartnäckigsten Illusionen und Fata Morganen, denen wir auf den Leim gehen. Im Gegensatz zu weltlichen Träumen, die uns tatsächlich enttäuschen können, egal, ob wir sie je erreichen oder nicht, können sich Glaubenssätze bis zum Ende unseres Lebens unangefochten halten; speziell, wenn es sich um transpersonale Konzepte wie Karma, Gott und die unterschiedlichsten Vorstellungen vom Leben nach dem Tod handelt. Und genau dieser Glaube beinhaltet oft, dass wir uns mehr bemühen sollten, ein noch moralischeres Leben zu führen.

Im Gegensatz dazu gibt es im Taoismus solch manipulierende religiöse Konzepte nicht. Dafür nimmt umso mehr die Haltung der Genügsamkeit in der Philosophie des „Wu Wei“ Raum ein. Darunter wird die feine spirituelle Kunst verstanden „aktiv passiv zu sein“, nichts im Leben erzwingen zu wollen und im natürlichen Fluss mit sich und dem Leben zu sein. Mit dieser bewussten und vertrauensvollen Entschleunigung tritt automatisch jene Fülle und jener Reichtum in den Vordergrund, die das Leben in diesem einzigartigen Augenblick ausmachen. Schon allein die scheinbar so selbstverständliche Tatsache, dass der Atem uns jetzt gerade so wunderbar am Leben erhält oder dass wir über die Augen und Ohren an der Welt teilhaben dürfen, kann dann als besonderes Geschenk erfahren werden.

Genügsamkeit versus Enthaltsamkeit

Die taoistische Genügsamkeit bewahrt dich davor, in den Strudel des populären Konsumwahns hineingezogen zu werden; sie hat aber dennoch nichts mit einer religiösen Enthaltsamkeit gemein. Theo Fischer, Autor von zahlreichen taoistischen Büchern, schreibt dazu: „[…] Gönnen Sie sich die Erfüllung kleiner Wünsche, leisten Sie sich auch Dinge, die Ihr ernster Verstand als unnötig abstempelt. Während Sie bewusst und gezielt auftauchende Hemmschwellen über-schreiten, wird Ihr Geist, wird Ihre Psyche und Ihr Gemüt einen unerwarteten Hauch von Freiheit spüren. Sie merken plötzlich, dass Leben und Glück auf dem WEG auch das Unnütze brauchen. Ja, dass insbesondere die nutzlosen Dinge jene Elemente sind, die Sie über die alten, gewachsenen Konditionierungen hinauswachsen lassen.“ (Fischer, S 242)

Der dritte Schatz ist, nie der Erste sein wollen.

Dieser Hinweis betrifft natürlich nicht jene Menschen, die sowieso schon ein introvertiertes Schattendasein führen und es bisher nicht gewagt haben, auch einmal eine Hauptrolle in ihrem temporären Lebensstück zu übernehmen. Dieser Hinweis adressiert jene extrovertierten Typen, die gerne im Rampenlicht stehen … egal ob sie dabei bewundert oder verachtet werden. Wie menschlich das ist, wird klar, wenn man sich vorstellt, dass es schon vor 3500 Jahren im antiken Griechenland sportliche Wettkämpfe gegeben hat. Und wer auf der gesellschaftlichen und sportlichen Ebene nicht fit, fähig und schön genug ist, die erste Geige zu spielen, der will zumindest als Zuschauer live dabei sein und sich mitfreuen und mitärgern, wenn sich bei Mega-Events Celebrities präsentieren, die voller Selbstbewusstsein und Selbstüberschätzung strotzen.

Da naturgemäß auch die öffentliche spirituelle Szene nicht von bescheidenen Weisen und introvertierten Philosophen bespielt wird, ist das, was man hier erlebt, ebenfalls oft sehr menschlich und weltlich. Und seitdem die sozialen Medien im alltäglichen Mainstream angekommen sind, sind auch den spirituellen Profilierungskünstlern keine Grenzen mehr gesetzt. Bei manchen erscheint es sogar wie eine Sucht, sich täglich in irgendeiner Form zu zeigen und seine Weisheiten in die Welt zu posaunen. Allerdings wäscht auch hier eine Hand die andere, denn ohne Nachfrage gäbe es kein Angebot. Dabei genügt oft schon ein kurzer kritischer Blick, um zu erkennen, dass die Art, wie hier um Aufmerksamkeit gebuhlt wird, kaum zu einer nachhaltigen Zufriedenheit führen kann.

Wie prekär es sein kann, an oberster Spitze zu stehen, wenn ein bisher unbekanntes Narrativ in Verbindung mit Angst und Panikmache über den Globus getrieben wird, hat sich vor ein paar Jahren gezeigt. Zahlreiche religiöse Oberhäupter, spirituelle Größen und bekannte Gurus haben bei dieser menschlichen Katastrophe und bei diesen folgenschweren Massenhypnose mitgemacht. Und wer von ihnen hatte im Nachhinein die charakterliche Größe zuzugeben, dass einige ihrer Statements vielleicht sogar Ausgrenzung, Traumatisierung und Krankheit bewirkt haben?

Durch die Liebe wird man furchtlos

Welche wunderbare und kraftvolle Wirkung Liebe beinhaltet, wenn sie – gerade in Krisenzeiten – nicht nur ein religiöses Lippenbekenntnis ist, sondern eine gelebte Realität ist. Diese transformierende Kraft wird in den letzten Zeilen des 67. Verses deutlich:
„Durch die Liebe wird man furchtlos.
Genügsamkeit macht weitherzig.
Ohne Ehrgeiz kann man Menschen führen.
Wenn man im Kampf die Liebe hat, dann siegt man.
Wenn man sie bei der Verteidigung hat, wird man unüberwindlich.
Wen der Himmel retten will, den schützt er durch die Liebe.“

Darüber gäbe es jetzt noch viel zu sagen … aber vielleicht lässt man solch mystische Weisheiten, in denen man eine zeitlose Aktualität ahnt, einfach in stillen Momenten wirken. Und solch besondere Augenblicke fließen dann auf natürliche Weise in unser Leben, wenn man von Zeit zu Zeit aus den Wettläufen mit sich und der Welt aussteigt und genügsamer und zufriedener wird.