„In all deinen Beziehungen zur Welt und deinen Mitmenschen stehst du immer wieder vor derselben Weggabelung. Ein Pfad ist die Liebe und der andere die Angst.“
Wolfgang Neigenfind

Was passiert, wenn ich immer weniger von unheilsamen Absichten, blinden Emotionen und sinnbefreiten Reaktionen bestimmt bin, sondern selbstbewusst, liebevoll und gewissenhaft das Steuer in meinem Leben übernehme: Ich werde ich im Alltag zunehmend durch ruhigere Gewässer und durch lieblichere Landschaften gleiten. Dann muss ich nicht mehr mühsam innere Widerstände überwinden oder krampfhaft meine Zunge zügeln: Denn auf ganz natürliche Art wird mein Leben von den eigenen heilsamen Quellen gespeist und von selbstwirksamen Kräften der Facetten der Liebe bestimmt. Mir wird bewusst, dass auch bei den unscheinbarsten Handlungen täglich die Samen für mein künftiges Glück oder Leid gesät werden. Und ich bin felsenfest überzeugt, dass ich nicht von Chaos, Schicksal, anderen Menschen, äußeren Mächten oder von irgendeinem Gott fremdbestimmt und diktiert werden kann.

Das Hohelied der Liebe

Im 1. Korintherbrief des Apostel Paulus gibt es eine sehr ungewöhnliche, berührende und unmissverständliche Abhandlung über die Liebe:
„Die Liebe ist langmütig, / die Liebe ist gütig. / Sie ereifert sich nicht, / sie prahlt nicht, / sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, / sucht nicht ihren Vorteil, / lässt sich nicht zum Zorn reizen, / trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, / sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, / glaubt alles, / hofft alles, / hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.“

Neun Facetten der Liebe

Diese Thematik greift der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho in seinem Büchlein „Und die Liebe hört niemals auf“ auf. Dabei werden Ausdrucksformen der Liebe mit dem Licht verglichen, das sich durch ein Prisma in seine Regenbogenfarben auffächert. Völlig unabhängig von Kultur, Religion, Tradition und Zeitgeist entstehen diese Qualitäten aus wahrer Liebe heraus und führen uns zur wahren Liebe:
Geduld, Wohlwollen, Großzügigkeit, Demut, Anstand, Selbstlosigkeit, Duldsamkeit, Arglosigkeit, Aufrichtigkeit.

Geduld

Wenn abartige Schnelligkeit zu unserer Normalität wird und wir im 24/7 Modus fast alles und jeden bekommen, kontaktieren und an- oder abrufen können, wird diese Haltung des Aushaltens, des Innehaltens und der Muße zurückgelassen. Noch nie in der Menschheitsgeschichte waren unser Körper und unser Geist mit so einer unmenschlichen Geschwindigkeit unterwegs. Und da um uns so viele andere in diesem Affentempo durchs Leben rasen, fallen uns unsere Ungeduld und Getriebenheit kaum noch auf … oder erst dann, wenn es zu spät ist und wir vom Durchdrehen ausgebrannt sind.

Dabei kann mir alleine schon ein achtsamer Aufenthalt in der Natur wieder die heilsame Qualität dieser entschleunigenden Liebes-Facette vermitteln, indem ich mich auf den gemächlichen und natürlichen Lebensrhythmus von Pflanzen und Tieren einlasse.

Wohlwollen

Gerade in den letzten Jahren haben wir uns so oft in fixierte Meinungen verstricken lassen, dass eine entspannte Offenheit und eine menschliche Zuwendung verloren gegangen ist. Wie ein Krebsgeschwür verdrängen irrationale Ängste klare Erkenntnis und intuitives Vertrauen. Von einem Tag auf den anderen wird das natürlichste der Welt – die menschliche Nähe, die körperliche Berührung oder ein offenes Lächeln – als etwas lebensgefährliches verboten und bestraft. Und wenn dabei Argwohn zur Massenhypnose wird, dann treibt sich eine Gesellschaft selber in eine katastrophale unmenschliche Sackgasse. Und die kollateralen Schäden auf allen Ebenen sprechen Bände.

Nur durch Liebe und Wohlwollen kann Hass überwunden werden. Deswegen heißt es in der Bhagavadgita, Vers 2.50:
„yogah karmasu kaushalam“ (Vers 2.50): „Yoga heisst wohlwollende Geschicklichkeit.“

Großzügigkeit

In der Enge fühlen wir uns zwar unfrei, aber dafür sicher, doch eng gestrickte Einstellungen manifestieren sich in scheuklappenartigen Lebensweisen. Derzeit wird jeder von uns immer wieder vor die Wahl gestellt (oder ungefragt dazu gezwungen): Will ich in meinem Leben mehr Sicherheit oder mehr Freiheit?

In dem Maße, in dem ich mich mutig zu mehr Freiheit bekenne und indem ich aus dem Mainstream und den Gewohnheitsmustern von Vorurteilen, Neid und Missgunst ausbreche, werden zunehmend Leichtigkeit und Offenheit meinen Geist und mein Leben durchströmen. Wenn meine innere Großzügigkeit an Kraft gewinnt, wird sich diese auch nach außen in natürlicher Gebefreudigkeit ausdrücken. Denn Glück nimmt nicht zu, wenn ich es für mich behalte und es wird nicht weniger, wenn ich es verschenke. Ganz im Gegenteil: Je mehr Glücklichsein ich aussäe, desto mehr werde ich von dieser großzügigen Qualität der Liebe ernten.

Demut

Wenn ich mich als großartiger „Macher“ und reicher „Besitzer“ aufspiele, dann braucht es manchmal einen heftigen Dämpfer durch den einen oder anderen Schicksalsschlag, damit ich erkenne, dass nichts in meinem Leben selbstverständlich ist: Jobverlust, Trennung, Unfall, Krankheit oder sogar eine nahe Begegnung mit dem Tod.

Je mehr ich erahne, wer ich wirklich bin, wie wenig ich letztendlich mein Leben kontrollieren kann und wie wenig wirklich mir gehört, desto demütiger wird meine Grundeinstellung. Nur Menschen mit ausreichendem Selbstbewusstsein können wirklich bescheiden sein. Paulo Coehlo schreibt: „Liebe rühmt sich nicht selbst. Liebe ist nicht aufgeblasen. Demut ist verborgene Liebe.“

Anstand

Dieser Begriff mag vielleicht durch unsere Erziehung negativ besetzt sein. Vielleicht ist uns auch in letzter Zeit aufgefallen, wie der Begriff „Anstand“ von Politik, Medien und Gesellschaft als moralische Keule missbraucht wurde, um Andersdenkende auszugrenzen und abzuwerten.

Aber Anstand kann auch im positiven Sinne verstanden werden: Hat das, was ich denke, ausdrücke und tue für mich und für andere eine heilsame Wirkung, oder verstärkt dies Gier, Hass oder Verblendung? Eine solch anständige Herangehensweise braucht viel Aufmerksamkeit, Gewissenhaftigkeit, Weisheit und Selbstverantwortung. Sie lässt bewusst die Schubladen-Mentalität und das Schwarz-Weiß-Denken hinter sich und hat nicht unbedingt etwas mit anerzogenem, kulturellem, moralischem und moralisierendem Anstand zu tun.

Selbstlosigkeit

Diese altruistische Haltung bewirkt, dass ich mein Leben nicht ausschließlich nach eigenen Vorteilen ausrichte und dass ich meine Seele wegen kurzzeitigen und billigen Vorteilen weder verbiege noch verkaufe. Wenn eine Gesellschaft von Angst, Egoismus und Geltungssucht durchdrungen ist, erscheinen unbestechliche und integrere Menschen so ungewöhnlich beeindruckend und vorbildlich.

Der selbstlose Ausdruck der Liebe steht eng im Zusammenhang mit den vorhin erwähnten Qualitäten von Großzügigkeit und Anstand. Schon in der Bhagavadgita beschreibt Krishna im Vers 3:19 Selbstlosigkeit als eine edle Facette der Liebe:
„Tu deine weltliche Pflicht, aber ohne irgendeine Bindung an sie oder irgendein Begehren nach ihrem Ertrag.“

Duldsamkeit

Diese liebevolle Haltung ist notwendig und hilfreich, um mit einem unperfekten Leben in einer unperfekten Welt gut zurecht zu kommen. Erst wenn ich geduldig die Fehlerhaftigkeit meines Geistes, die Endlichkeit meines Körpers und die Unberechenbarkeit meines Lebens eingestehen kann, dann wird sich diese Duldsamkeit auch als eine verzeihende Haltung gegenüber meinen Mitmenschen manifestieren.

Im Yoga-Sutra – Vers 1,33 – beschreibt Patanjali, dass man auf unmoralisches Verhalten (apuṇya) mit Gleichmut (upekṣā) reagieren soll – und nicht mit Unmut oder Hass.

Arglosigkeit

Wenn ich viel Unrecht und Bösartigkeit im Leben erfahren habe, wird es mir sehr schwierig erscheinen, das Gute im Menschen zu sehen. Erst wenn ich den Teufelskreis der misanthropischen Haltung von „Homo homini lupus“ (Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) durchschaue, und deren „Selffulfilling Prophecy“, werde ich mich davon lösen können. Denn kaum jemand wird auf meine grundsätzliche Skepsis und meinen verwurzelten Argwohn mit Vertrauen und Zuwendung antworten – ganz im Gegenteil: Diese negative innere Haltung drückt sich in einer entsprechenden Körperhaltung und Ausdrucksweise aus und zieht wie ein Magnet die Negativität der anderen an.

So wie die von uns angestoßene Kettenreaktion des Schicksals (= Karma) sich in eine negative Richtung bewegen kann, so kann sie sich durch liebevolle Arglosigkeit in eine positive bewegen. Es liegt also an mir, ob ich es schaffe, den Teufelskreis in einen Engelskreis zu transformieren und diese Facette der Liebe zum Leuchten bringe.

Aufrichtigkeit

Diese Facette der Liebe – die manchmal sogar als lieblos oder egoistisch interpretiert wird – ist eine der wichtigsten Tugenden am spirituellen Pfad. Gerade wenn sich durch persönliche, gesellschaftliche oder globale Krisen das Leben aus der gewohnten Normalität verrückt hat, zeigt sich, wie authentisch und integer ich zu meinen wahren Werten stehe.

Wie kann wahrhaftige Liebe mein Leben durchfluten, wenn ich mich von Mainstream und Leitmedien mitreißen lasse und weder ehrlich, noch gewissenhaft zu mir und zu anderen bin. Damit mein Leben tatsächlich einem Fels in der Brandung oder einem Licht in der Dunkelheit gleicht, muss es auf dem Fundament der Liebe und des Mutes zur Wahrheit gebaut sein. Und wenn ich noch nicht die Kraft habe, diese Qualitäten in mir zur Entfaltung zu bringen, dann empfiehlt das Yoga-Sutren im Vers I,33: „Erfreue dich (mudita), an jenen, die die heilsamen Tugenden (puṇya) leben.“

Diese Liebes-Qualitäten

Geduld, Wohlwollen, Großzügigkeit, Demut, Anstand, Selbstlosigkeit, Duldsamkeit, Arglosigkeit und Aufrichtigkeit bringt mich näher zu einer Liebe, die sich mir selber, meinen Mitmenschen und dem Leben zuwendet. Gleichzeitig sind diese unterschiedliche Zugänge der Liebe auch Ausdruck jener freundlichen Lebensweise, die Grenzen überschreitet, Brücken baut und Gräben schließt … und was brauchen wir mehr, in Zeiten wie diesen.