Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus. Jeden Morgen ein neuer Gast. Freude, Kummer und Niedertracht. Begrüße und bewirte sie alle! Selbst wenn es eine Schar von Sorgen ist, die gewaltsam alle Möbel aus deinem Haus fegt, erweise dennoch jedem Gast die Ehre. Vielleicht bereitet er dich vor auf ganz neue Freuden. Sei dankbar für jeden, der kommt, denn alle sind dir zur Führung geschickt worden aus einer anderen Welt.“
Rumi

Friedensboten und Störenfrieden sehen wir natürlich überall um uns und über die Medien. Aber sind diese Charaktere nicht auch in jedem von uns? Es ist so leicht, bei meinen Mitmenschen und in der Welt Partei zu ergreifen und auf der Seite „der Guten“ zu stehen und „die Bösen“ zu verurteilen oder sogar zu bekämpfen. Wenn ich mir aber Zeit nehme und auf mein Leben zurückblicke, gegenwärtig tief in meinen Seelengrund schaue und mir meine ungeschminkten Fantasien oder wilden Träume bewusstmache, dann staune ich immer wieder von Neuem, was ich da alles in mir entdecke: Wie viele Charaktere und Persönlichkeiten es in mir gibt, wie viele Stimmungen und Emotionen in mir leben, sich um Ausdruck bemühen oder auf ihren Aufritt warten. Wer in dieser Großfamilie und dem Vielvölkerstaat in mir gerade das Steuer in der Hand hat, ist nicht Zufall, sondern hat mit Lebensgeschichte, Erziehung, Gewohnheiten, Lebensumständen, Umfeld, Karma und auch mit Phänomenen zu tun, die mir völlig unerklärlich sind.

Nur weil sich ein bestimmter Charakterzug gerade zeigt und offensichtlich am Agieren ist, bedeutet das nicht, dass nicht auch der Gegenpol in mir vorhanden ist. Vielleicht schlummert er noch als ungekeimtes Samenkorn; vielleicht sprießt er schon unter der Oberfläche, zeigt sich in unvorstellbaren Träumen und wartet darauf ans Tageslicht zu kommen, wenn die richtigen Umstände ihm die Gelegenheit dazu bieten. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die ganze Evolution und Weltgeschichte in mir leben, sich formieren und weiterentwickeln. Persönliche, gesellschaftliche und globale Krisen – egal ob naturbedingt oder menschgemacht – dienen dabei nicht selten als Auslöser, damit bestimmte Masken fallen, um u.a. den heilbringenden Held oder die teuflische Fratze zum Vorschein zu bringen.

Es ist nicht nur der Heilige und die Weise in jedem von uns vorhanden, sondern auch die Sünderin und der Dummkopf; nicht nur die Kompromissbereite und der Friedensapostel, sondern auch der Provokateur und die Kriegstreiberin; nicht nur der Skeptiker und die Kritikerin, sondern auch die Blindgläubige und der Vertrauende; nicht nur der Asket und die gut erzogene Tochter, sondern auch der Lüstling und der verlorene Sohn; nicht nur der rationale Überleger und die angepasste Bürgerin, sondern auch die verrückte Chaotin und der revoltierende Anarchist; nicht nur die intuitive Träumerin und der feinfühlige Mitmensch, sondern auch der fixierte Realist und die unverbesserliche Egoistin; nicht nur die Fleißige und der Perfektionist, sondern auch der Faulpelz und die Schlampige; nicht nur die Großzügige und der Helfer, sondern auch der Dieb und die Schmarotzerin; nicht nur der mutige Abenteurer und die kreative Erfinderin, sondern auch der gewohnheitsliebende Angsthase und die strenge Bewahrerin von Traditionen; nicht nur das bedürftige Kind und die Schutzsuchende, sondern auch der starke Mann und die Beschützerin; nicht nur die Sklavin und der Diener, sondern auch der Sklaventreiber und die Herrscherin; nicht nur der Clown und der Superstar, sondern auch die Spaßverderberin und die Versagerin.

Es ist nicht nur der strenge Professor und die bedachte Wissenschaftlerin in uns, sondern auch die undisziplinierte Schülerin und der verstrahlte Verschwörungstheoretiker; nicht nur die bewunderte Gesellschafsdame und der lustige Partyboy, sondern auch der verachtete Versager und die schweigende Einsiedlerin; nicht nur der spirituelle Philosoph und die bewusste Genießerin und der Alleskönner, sondern auch die oberflächliche Konsumentin und der Drogenabhängige; nicht nur die engaghierte Umweltaktivistin und die Aufdeckerin, sondern auch der unbedachte Verschmutzer und der Verheimlicher; nicht nur der Gesundheitsfanatiker und die Sportlerin, sondern auch der Junkfood-futterende Couch-potato; nicht nur die Nonne und der Oberpriester, sondern auch die Prostituierte und der Zuhälter; nicht nur die Richterin und der Rächer, sondern auch der Angeklagte und das Opfer; nicht nur die Diplomatin und der Streitschlichter, sondern auch der Diktator und die Kriegerin. Es ist nicht nur die Liebenswürdige und der Zuversichtliche in jedem von uns vorhanden, sondern auch der Gewalttätige und die Verzweifelte.

Diese Aufzählung lässt sich unendlich fortsetzen und natürlich gibt es zwischen diesen extremen und gegensätzlichen Persönlichkeiten und Charakterzügen auch alle möglichen Grautöne, schillernde Variationen und unzählige Mischformen.

Auch wenn ich mich gerne in einer bestimmten und liebenswürdigen Art auf der Lebensbühne zeige, finden nicht selten hinter der Bühne oder im stillen Kämmerlein, in unkontrollierten Fantasien oder in unbewussten Träumen wilde Diskussionen, heftige Auseinandersetzungen, brutale Kriegszüge und unerbittliche Schlachten statt. Das meiste davon wird aber verheimlicht oder nicht gezeigt. Und viele dieser unterschiedlichen Pole und gegensätzlichen Kräfte sind mir vielleicht gar nicht bewusst oder ich schähme mich dafür und habe Angst vor Abwertung und Verurteilung.

Wenn ich diese ganze Thematik der wunderbaren Vielfalt und die Problematik dieses chaotischen Durcheinanders in mir bewusstwerde, dann werde ich mir immer wieder die Frage stellen: Wie kann ich es schaffen, damit zu leben? Und zwar so, dass ich nicht nur irgendwie überlebe, sondern trotz diesen Widersprüchen und Ungereimtheiten Klarheit, Liebe und Zufriedenheit in meinem Leben entfalte und entsprechend weitergebe.

Jede Religion, spirituelle Tradition, Kultur, Gesellschaft und Generation gibt darüber verschiedene Antworten und findet dazu unterschiedliche Strategien. Dabei spielen oft Ethik und Moral, Aufwertung und Lob, Bestrafung und Ausgrenzung und Über-Ich und Ego-Identifikation eine wichtige Rolle.

Aber vielleicht brauche ich dazu keine Institutionen, Traditionen und Autoritäten. Wenn ich bewusst und feinfühlig die stimmigen und richtigen Rollen zur richtigen Zeit einnehme, sie mir selbst und anderen gegenüber in einer weisen, heilsamen und wahrhaftigen Art ausdrücke, ohne andere Aspekte von mir zu verleugnen und ohne mich damit hundertprozentig zu identifizieren (denn ich bin viel mehr als das), dann gleicht mein Leben einem natürlichen Bach. In jedem Moment passt er sich selbstverständlich seiner sich wandelnden Umgebung an, ohne auf eine bestimmte Art fixiert zu sein.

Wie heißt es so gut passend: „Kein Mensch steigt zwei Mal in den gleichen Fluss, denn Fluss und Mensch verändern sich von Moment zu Moment.“ Sind wir uns dessen bewusst, dann macht auch folgendes indianische Sprichwort Sinn: „Urteile nie über einen anderen, bevor Du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gegangen bist.“

Die yogischen Qualitäten von AHIMSA & SATYA, Gewaltlosigkeit & Wahrhaftigkeit, bieten uns eine sattvische Möglichkeit, mit mir und meinen Mitwesen heilend und heilsam umzugehen. Das beginnt damit, dass ich mir bewusstwerde, wie viele unterschiedliche Bedürfnisse in mir existieren und schlummern, die unterschiedlichste Gefühle und Emotionen hervorbringen und sich vielfältig ausrücken wollen. Es braucht viel Ehrlichkeit, Mut und Demut, auch in jene dunklen Ecken meiner Seele hineinzuschauen, die nicht gerade brillant und bewundernswert sind. Aber dennoch sind sie ein Teil von mir, der gesehen und respektiert werden will. Und vielleicht ist das schon eine wichtige Strategie, um das Unter-den-Teppich-Kehren, das Versteckenspiel und schwelende Konflikte in mir zu reduzieren.

Je länger ich mich bemühe, diesen inneren Weg in Richtung Gewaltfreiheit, Frieden und Liebe zu gehen, umso mehr wird mir bewusst, wie wichtig es ist, zunächst die inneren Dynamiken und eigenen Konflikte zu verstehen … denn diese kann ich am ehesten selber lösen. Erst dann werde ich weniger oft persönliche Probleme auf meine Umwelt projizieren und an meinen Mitmenschen ausagieren. Ich werde auch weniger leicht sensationsgetriebenen Medienberichten, machtfixierten Politkern und vereinfachten Gut-Böse-Darstellungen auf den Leim gehen.

Dabei kann es sehr hilfreich sein, folgende zeitlose Weisheiten aus unterschiedlichen Traditionen und Jahrhunderten zu kontemplieren:

„Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“  Johannes-Evangelium

„Der erste Friede, der Wichtigste, ist der, welcher in die Seelen der Menschen einzieht, wenn sie ihre Verwandtschaft, ihre Harmonie mit dem Universum einsehen und wissen, dass im Mittelpunkt der Welt das große Geheimnis wohnt und dass diese Mitte wirklich überall ist. Sie ist in jedem von uns. Dies ist der wirkliche Friede, alle anderen sind lediglich Spiegelungen davon. Der zweite Friede ist der, welcher zwischen einzelnen geschlossen wird. Und der Dritte ist der zwischen den Völkern. Doch vor allem sollt ihr sehen, dass es nie Frieden zwischen den Völkern geben kann, wenn nicht der erste Friede vorhanden ist, welcher innerhalb der Menschenseele wohnt.“  Nicholas Black Elk, Medizinmann der Lakota-Indianer

„Letztendlich bin nicht ich in der Welt, die Welt ist in mir!“  Yogische Weisheit

„Der Kerl, der mich verachtet und dessen Verachtung mir Kummer verursacht, wie auch meine Frau, meine Kinder und, gehen wir noch weiter, das Erwachen, das Sein, das Nichts, all diese „Realitäten“, die ich als objektiv und außerhalb meines Selbst befindlich ansehe, gehören einer Halluzination an. In Wirklichkeit liege ich ganz allein im Rennen, ich stelle die Fragen und gebe die Antworten. Erst wenn das Erwachen nicht mehr als ein objektives Substrat wahrgenommen wird, bin ich frei.“  Stephan Jordain aus „Einsichten eines erleuchteten Kettenrauchers