In Japan sind drei Lebensweisheiten entstanden, die sich auf die buddhistischen „Drei Grundlagen der Existenz“ (Tilakhana: Vergänglichkeit, Nicht-Ich und Leiden) stützen und bis heute Mensch und Alltag prägen:

„1) Die Welt erscheint in einem völlig neuen Licht, wenn wir sie mit dem Herzen sehen und erfahren.
2) Alles Sein, einschließlich des Lebens selbst, ist unbeständig, unperfekt und unvollendet. Die Perfektion ist daher ein Ding der Unmöglichkeit, und die Unperfektheit der natürliche Daseinszustand von Allem, einschließlich uns selbst.
3) Das Schlichte ist von großer Schönheit, Werthaftigkeit und Behaglichkeit.“

Wabi-Sabi: Die japanische Weisheit für ein perfekt unperfektes Leben“ Beth Kempton

Klarheit als Entscheidungsgrundlage

Seit die aktuelle nach wie vor alles beherrschende Krise unsere Weltbühne betreten und unser Leben in vieler Hinsicht verändert hat, ist klar, dass Österreich für mich Heimat und Fremde bedeutet. Hier werden wir gerade dazu angehalten (und das im wahrsten Sinne des Wortes) essentielle Fragen zu stellen und grundlegende Entscheidungen zu treffen. Aber erst wenn sich die Panikmache, die Angst, die Lähmung und die Wut gelegt haben, können wir mit Klarheit und in Ruhe spüren, welche Grundbedürfnisse uns eigentlich am Herzen liegen und in welchem Zuhause und in welcher Heimat wir tatsächlich leben wollen.

„Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird.“ Christian Morgenstern

Ver-rückter Wandel

Es war für mich ein eigenartiges Gefühl, letzten Juni nach einem halben Jahr wieder zurück in die alte neue Heimat zu kommen. Eigentlich war die Rückreise schon wesentlich früher geplant, aber eigenartige Umstände und Maßnahmen, die für mich nicht immer nachvollziehbar waren, machten die Entscheidung leicht, den Aufenthalt im klimatisch und menschlich wärmeren Süden Europas zu verlängern. Seit meiner Abreise zur Winter-Sonnwende 2020 haben sich nicht nur die Landschaft, das Pflanzenkleid und das Wetter gewandelt, sondern auch die gesellschaftliche Stimmung, die politische Glaubwürdigkeit, das mediale Narrativ und die individuellen Freiheiten … und vieles davon nicht zum Positiven.

Ich spüre, dass in letzter Zeit die Distanz zwischen uns Menschen, dass sich Verstecken hinter Masken, die Angst vor etwas Unsichtbarem und Undefinierbarem größer geworden ist. Dagegen sind der natürliche Umgang mit sich und anderen, unverhüllt strahlende Gesichter und das Händereichen – nicht nur im übertragenen Sinne – weniger geworden.

„Heimat ist Tiefe, nicht Enge.“ Hanns Koren

Fremd in der Heimat

(Vergleiche dazu meinen Buchtitel „Wie ein Fremder im Paradies“)
Der Begriff Heimat verweist auch auf eine Beziehung zwischen Mensch und Raum. Was kann mir aber die schönste Landschaft, in der ich aufgewachsen bin, bieten, wenn ich dort meinen Beruf nur noch bedingt oder gar nicht mehr ausüben kann, wenn ich von gewissen gesellschaftlichen und kulturellen Ereignissen ausgeschlossen werde, wenn ich bestimmte Dokumente nicht vorweise, wenn ich es nicht mehr wage, meine Meinung zu aktuellen Themen zu äußern, weil sie nicht in das eng diktierte Narrativ von Politik, Medien und Gesellschaft passt?

„Zuhause ist man da, wo man sich fallen lassen kann, wo das eine Herz das andere auffängt.“ Sylvia Tubbesing

Äußere Veränderungen bewirken immer einen inneren Wandel und vice versa. Sie bedingen auch einen Wechsel in der subjektiven Wahrnehmung. Wie ich als Person und wir als Gesellschaft damit umgehen, ist – und wird – eine spannende und nicht vorhersehbare Reise. Manchmal habe ich dabei das Gefühl, dass ich etwas unvorbereitet und unerwartet vom Kindergarten in die Hochschule des Lebens katapultiert wurde … aber mir für einige der Aufgaben die Tools und die Lösungsansätze fehlen. Das notwendige Gebot der Stunde lautet: Learning by doing, learning by being, learning through try & error.

Ent-Täuschungen und Möglichkeiten

Auf diesem gerade etwas stürmischen und holprigen Lebensabschnitten haben sich einige Freundschaften bestätigt oder sogar vertieft, andere haben sich dagegen abgekühlt oder verabschiedet. Und natürlich wurde ich mit einigen Ent-Täuschungen konfrontiert, aber dafür wurde ich mit neuen Erkenntnissen und Möglichkeiten beschenkt, die sich beim Schönwetter-Programm des Lebens niemals gezeigt hätten.

„Das Zuhause ist keineswegs der einzige zivilisierte Ort in einer abenteuerlichen Welt, sondern der einzige unzivilisierte in einer Welt der Zwänge und Pflichten.“ G. K. Chesterton

Das Leben auf den Balearen hat mir für einige Zeit einen schönen und schützenden Hafen geboten. Aber Schiffe sind nicht für den Hafen gebaut, sondern um ferne und auch unbekannte Ziele zu erreichen. Erst bei solchen abenteuerlichen Überfahrten, mit ungewissem Ausgang, stellt sich heraus, wie weit ich schon auf meinen spirituellen Kompass, auf meine Lebenserfahrung und auf meine Weisheit und Intuition vertrauen kann.

Leuchttürme in der Heimat und Fremde

Ich bin froh, dass es bei stürmischer See und dunkler Nacht immer wieder Leuchttürme gibt, die mir einen sicheren Weg weisen. Zu solchen Lebensleuchten gehört meine furchtlose Mutter, die trotz (oder wegen) ihres Alters (Jahrgang 1937!) ihre zuversichtliche Klarheit, ihre Tendenz zur eigenwilligen Revoluzzerin, ihre Liebe zu unangepassten Charakteren, ihr kritisches Hinterfragen von Normen und ihren treffsicheren Humor nicht im Geringsten verloren hat.

Erst jetzt wird mir so richtig bewusst (… und dafür bin ich unendlich dankbar), wer u.a. für meine ungewöhnliche Lebenseinstellung verantwortlich ist und wer die Grundlagen geschaffen hat, dass für mich „Zuhause“ mehr ist, als bloß vier Wände und ein Dach über’m Kopf zu haben.
Wenn wir ganz ehrlich sind, dann müssen wahrscheinlich wir zugeben, dass Heimat und Fremde nicht nur mit einem Ort zu tun hat, sondern auch mit meinem Seelenzustand.

„Sag mir, wo bist du denn daheim, wenn nicht bei dir selbst?“  Thomas von Kempen