„Wir wollen die kleinen Dinge lieben,
das Zarte, das Unscheinbare,
das Schwache und Leise,
das in uns und zwischen uns atmet
und nach dem Segen des Künftigen fragt.
Wir wollen die kleinen Dinge hüten,
das Geringe, das sich seiner Größe nicht erinnert,
Das Wachsende, dem zu oft Gewalt angetan wurde,
und das Hoffnungsvolle,
das stiller wurde mit jeder Verletzung.“
Giannina Wedde

Einzigartige Chancen der Entfaltung

Bevor ich hier auf sieben Phasen der Krise eingehe ist es wichtig zu verstehen: Krisen, Kataststrophen oder Schicksalsschläge beinhaltet nicht nur Negatives und Schlechtes: Sie bietet mir auch immer einzigartige Chancen zur Entfaltung. Das altgriechische Wort krísis bedeutet ursprünglich ‚Meinung, Beurteilung, Entscheidung‘. Es ist also eine Zeit, in der ich meine Komfortzone und Gewohnheiten hinter mir lassen muss, weil es in meinem Leben, in der Gesellschaft oder global einen Umbruch gibt. Dabei ist die größte Katastrophe oder „Umwendung“, die jedes Lebewesen früher oder später erleben wird, der eigene Tod. Aber schon lange vor dem eigenen irdischen Ableben, können mir bestimmte Erfahrungen die Lebensfreude nehmen.

Elisabeth Kübler-Ross hat bei ihrer Sterbeforschung fünf Phasen beobachtet. Angelehnt an diese Erkenntnis, möchte ich hier sieben Phasen der Krise beschreiben, die viele von uns in schwierigen Zeiten durchgehen. Wie ich damit umgehe und wie lange ich in einer bestimmten Phase steckenbleibe, hängt stark von meinem Charakter und meiner Umgebung ab.

1) Nicht-Wahrhaben-Wollen

Tagtäglich prasseln unzählige Eindrücke über die Sinne und unsere mentalen Aktivitäten auf uns ein. Eine selektive Wahrnehmung ist dabei überlebenswichtig, um sich trotz der Flut von Informationen orientieren zu können. Deswegen ist ein gesundes Maß an Übersehen und Wegschauen wichtig für eine stimmige Work-Life-Sleep-Balance. Ignoriere ich aber bestimmte Alarmzeichen zu lange, dann kann es zu einem Tsunami kommen, dessen Wucht und Zerstörung mich und andere vielleicht noch lange beschäftigen werden. Die Kunst ist also, den Geist so flexibel, lebendig und klar zu halten, dass ich fließend zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem wechseln kann, zwischen Vordergründigem und Hintergründigem und zwischen den Bewusstseinsebenen des Alltags, der Psyche und des Absoluten.

2) Angst

…. ist eine der wichtigsten Phasen der Krise. Darüber heißt es treffend: Evolutionsgeschichtlich hat die Angst eine wichtige Funktion als ein die Sinne schärfender und Körperkraft aktivierender Schutz- und Überlebensmechanismus, der in tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Gefahrensituationen ein angemessenes Verhalten (Fight-or-Flight) einleitet. Diese Aufgabe kann sie nur erfüllen, wenn weder zu viel Angst das Handeln blockiert noch zu wenig Angst reale Gefahren und Risiken ausblendet.“

Werde ich durch eigene Gedanken und Gefühle oder durch politische, mediale und gesellschaftliche Stimmungen lange und oft genug auf ein nicht überprüfbares, nicht greifbares oder fiktives Problem hingewiesen, kann es zu einer Angststörung oder Phobie kommen, die sich so real anfühlt, als wenn tatsächlich ein wilder Elefant, ein Mörder oder der Exmann vor mir stehen würde.

Angst wird von machtbesessenen Personen, Politikern, Parteien, Medien und Gurus deswegen geschürt, da sich unter solch einer Emotion das rationale, humanistische und spirituelle Denken verabschiedet. Der einzelne und eine ganze Gesellschaft werden leicht gefügig gemacht und laufen wie Schafe dem Hirten oder starken Mann hinterher. Da dieses Täter-Opfer-Verhalten sehr menschlich ist, hat es dies in der Vergangenheit oft gegeben; wir erleben es in der jetztigen Krise und wir werden auch in Zukunft immer wieder damit umgehen müssen. Deswegen ist es wichtig, dass ich mir spirituelle oder ethische Tools aneigne, wie ich irrationale Angst in nachvollziehbare Vorsicht und mitfühlende Rücksicht umwandeln kann.

3) Wut

Wenn ich es schaffe, die lähmende Angst hinter mir zu lassen, dann wird sich eventuell die Implosion in eine Explosion umwandeln. Das heißt, der Anpassungs- und Fluchtmechanismus verändert sich in Aggression, wobei dies wörtlich „heranschreiten, sich nähern oder angreifen“ bedeutet. Diese kann sich verbal, physisch, als Drohverhalten oder im Spiel ritualisiert ausdrücken. Wenn ich zu aggressivem Verhalten neige oder in Krisenzeiten es genug Auslöser gibt, dann kann daraus Wut entstehen, die heftiger als Ärger und schwerer zu beherrschen als Zorn ist. Solch ein blinder emotionaler Ausbruch kann dazu führen, dass meine gewöhnliche Schamgrenze, mein Anstand und meine Menschlichkeit überrollt werden und ich in solch einer Situation sogar über Leichen gehe.

Jeder von uns hat schon Wutausbrüche gehabt, und wir sollten daher vorsichtig sein, Menschen, die so in ihrem Affekt stecken, leichtfertig zu verurteilen. Aufgestaute Wut hat immer eine Vorgeschichte. Wenn wir den ursächlichen Leidensweg in Betracht ziehen, fällt es uns wahrscheinlich leichter, Menschen nicht ausschließlich an ihren Taten zu bewerten, sondern können mit Mitgefühl die dahinter liegende Verletzungen sehen, den Lebensfrust und die Verbitterung. Wie auch anderen Phasen der Krise wird sich auch die Wut früher oder später Platz machen für die nächste psychologische Taktik.

4) Verhandeln

Ist Ruhe nach dem aggressiven Sturm eingetreten, dann wird in mir manchmal der Verhandler und Kritiker und Verhandler wach, um mit einer Ungerechtigkeit oder Zumutung umzugehen, egal ob gegen den Nachbarn, den Partner, der Geschwister oder gegenüber politische Maßnahmen. Dass staatliche Maßnahmen sich nicht immer mit dem Gewissen der Bürger vereinbaren lassen, hat Henry David Thoreau schon 1849 in seinem beachtlichen Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ ausgedrückt: „Könnte es nicht eine Regierung geben, in der nicht die Mehrheit über Falsch und Richtig befindet, sondern das Gewissen? […] Muss der Bürger auch nur einen Augenblick, auch nur ein wenig, sein Gewissen dem Gesetzgeber überlassen? Wozu hat denn jeder Mensch ein Gewissen? Ich finde wir sollten erst Menschen sein, und danach Untertanen.“

Auf seelischer Ebene kann in dieser Phase auch mein religiöser Glaube eine entscheidende Rolle spielen. Ich verspreche Gott, irgendwelchen übernatürlichen Wesen oder meinem Wesenskern ein Opfer, tue Buße, unterwerfe mich asketischen Praktiken oder gebe eine großzügige Spende, als Tauschgeschäft, um mein ersehntes Ziel endlich zu erreichen.

5) Depression

Klappt auch diese Lebens- und Überlebens-Strategie nicht, dann kann es passieren, dass ich in eine zeitweilige Verzweiflung oder gar in eine chronische Depression falle. Von allen Phasen der Krise ist dies meist die dunkelste und zäheste, denn dabei gehen Lebensfreude, Selbstwertgefühl, Leistungsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und das Interesse am Leben verloren. Schaffe ich es in dieser Durststrecke so lange durchzuhalten, bis wieder Licht im Tunnel erscheint, dann werde ich eine der segenreichsten Transformationen erleben.

6) Akzeptanz

Eines der wichtigen Ziele der yogischen und spirituellen Praxis ist es, meine menschliche Begrenztheit zu erkennen und diese äußere Grenze zu einem inneren Tor zu transformieren. Mangel, Vergänglichkeit, Ohnmacht, Chaos, Schuld, Schmerz, Alleinsein und sogar das Gefühl der Sinnlosigkeit sind nicht unbedingt persönliche Schicksalsschläge, sondern bringen Geburt und Leben naturgemäß mit sich.

Vielleicht muss ich erst durch diese fünf Not-wendigen Phasen durchgehen, mich daran stoßen, reiben und verletzen, um durch diesen schmerzvollen Läuterungsprozess zu einer neuen Klarheit und Ausrichtung zu kommen. Dann verschwinden die subjektiven Filter, hebt sich der Vorhang und ich kann mein Leben und die Welt wieder aus einem neuen Licht wahrnehmen.

Wenn ich meine entscheidendsten Lebensstationen reflektiere, dann erkenne ich im Nachhinein, dass alle meine Krisen und Tiefpunkte eigentlich ein „blessing in disguise“ und richtungweisende „stepping-stones“ waren. Sogar den meisten Helden und Heiligen wurde Mut, Reife und Erhabenheit nicht in die Wiege gelegt. Viele mussten Passionen und Martyrien erleiden, um das zu werden, wofür sie später idealisiert wurden.

7) Bewusstes Handeln

Manchmal braucht es erst ein Reset, eine Tabula rasa, damit ich ein neues Kapitel in meinem Lebensbuch schreiben kann. Die letzte der sieben Phasen der Krise erscheint dann, wenn man schon alles Mögliche probiert hat, aber das Leid dennoch nicht weniger wurde. Und erst dann ist tatsächlich die Zeit reif, etwas zu verändern. Nur mit Mut und Vertrauen wird es mir möglich sein Bekanntes hinter mir zu lassen und unbekanntes Terrain zu betreten. Erst wenn ich eine unheilsame Beziehung, eine energieraubende Bekanntschaft, einen aufreibenden Job, eine unstimmige Wohnort oder einen belastenden Besitz aufgebe, gebe ich dem Leben eine wahrhaftige Chance, mir etwas Unvorhersehbares und wunderbar Neues zu präsentieren.

Krisenfahrplan ohne Garantie

Natürlich gibt es keine Garantie, dass sich diese Phasen der Krise immer in dieser Art zeigen. Manchmal kommt man aus einer Phase lange nicht heraus. Manchmal stolpert man ganz unerwartet wieder in eine Phase zurück, die man schon längst überwunden geglaubt hatte. Wichtig dabei ist, dass wir keine dieser in uns angelegten Strategien zu persönlich zu nehmen, sondern immer wieder aus einer gewissen Distanz betrachten und daraus für die Zukunft lernen.