„Soweit wir erkennen können, besteht der einzige Zweck der menschlichen Existenz darin, ein Licht in der Dunkelheit des bloßen Seins zu entzünden.“
Carl Gustav Jung

Ich möchte mit einem Beispiel beginnen, wie wir uns die Grenzen des Menschseins bewusst machen können:
Leben kann sich kaum entfalten, wenn es – wie Wasser in einem betonierten Kanal – einfach nur ungehindert zu Tale fließt. Es wird erst dann fühlbar lebendig, wenn es – wie ein Bergbach – über unzählige kleine und große Hindernisse rauscht. Und ungewöhnlich viel Kraft kann ein Fluss erst dann entwickeln, wenn er aufgestaut wird. Wir gelangen täglich an irgendwelche kleine Grenzen, die einer Türschwelle oder einem Gartenzaun gleichen und durch unsere gewohnte Routine und unsere unbewussten Reaktionen haben wir gelernt, damit leicht fertig zu werden.

Aber wie gehen wir damit um, wenn wir eines Tages an etwas so Unerwartetes und Gewaltiges, wie eine Chinesische Mauer stoßen. In diesem Land liegt übrigens auch die mittlerweile berühmt berüchtigte Stadt „Wuhan“. Vor zwei Jahren war dieser Ort der Auslöser für einen Tsunami, der die ganze Menschheit und jeden Einzelnen von uns auf unterschiedliche Art getroffen hat. Die Nachbeben sind bis heute noch spürbar und viele verursachte Wunden sind noch nicht verheilt. Vielleicht werden sogar einige Schäden und Narben in uns und unserer Gesellschaft ein ganzes Leben lang bleiben.

Wir sind plötzlich an existenzielle menschliche Grenzen gestoßen worden, die eigentlich potentiell immer schon da sind, aber uns erst dadurch deutlich vor Augen geführt wurden. Wir interpretieren sie zwar oft als persönlichen Schicksalsschlag, aber es sind grundsätzliche Erfahrungen, die jeder irgendwann einmal im Leben machen wird und machen muss, unabhängig von Alter, Geschlecht, kulturellem oder sozialem Hintergrund; und unabhängig vom gesellschaftlichen Status und den finanziellen Umständen. Warum jeder Mensch dennoch unterschiedlich damit umgeht liegt daran, dass jeder von uns unterschiedlich geprägt ist: durch Charaktereigenschaften, Kindheitserfahrung, Lebenseinstellung, Glaubensausrichtung, karmisches Gepäck und durch andere unsichtbare Kräfte.

Es liegt an jedem von uns, ob wir diese acht menschlichen Grenzen als wichtige Lehrmeister erkennen und sie in einer Krise als Chance nutzen. Es kann sein, dass wir durch Zufall eine Tür in einer scheinbar unüberwindbaren Mauer entdecken, oder uns mit viel Mühe und Geduld eine Öffnung schaffen. Und manche Grenzen des Menschseins sind naturgemäß unüberwindbar und wir müssen lernen, sie zu akzeptieren, zu integrieren und aus den Hindernissen das Beste daraus zu machen.

1) Mangel

Vom ersten lebensnotwendigen Atemzug in dieser Welt machen wir bestimmte und bestimmende Erfahrungen des Mangels: Hunger, Durst, Schlafmangel, nicht ausreichend Wärme, Bewegung, Kontakt oder Aufmerksamkeit etc. Als Erwachsene und in unserer digitalen Überflussgesellschaft haben wir es geschafft, diese Mangelgefühle so geschickt in Schach zu halten, dass wir sie kaum noch bemerken. Ein Hungergefühl kommt selten auf, weil wir ständig aus Gewohnheit und Genuss essen; Schlafbedürfnis wird kaum wahrgenommen, weil es durch Aufputschmittel und Schlaftabletten reguliert wird. Wie selten darf unser Körper sich in ungebremsten Naturgewalten lebendig fühlen? Vielleicht ist das auch der Grund, warum Eisbaden zu so einem Trend geworden ist, denn schon wenige Minuten im kalten Wasser machen uns die Gebrechlichkeit und Kraft des Lebens bewusst.

Die Kunst, mit Mangelgefühlen und unerfüllten Bedürfnissen umzugehen, liegt darin, zu erkennen, dass wir nicht alles im Leben sofort befriedigen können und sollen. Wenn wir nicht mehr ständig mit Zuckerbrot und Peitsche durchs Leben gelockt und getrieben werden wollen, sollten wir lernen, immer wieder eine Haltung von würdiger Bedürftigkeit einzunehmen. Damit öffnen wir eine Tür zur Ruhe, Entspanntheit und weiser Erkenntnis.

2) Chaos

Jeder Mensch sehnt sich im Leben nach einer gewissen Ordnung, Routine und einer Erklärung, warum bestimmte Dinge so und nicht anders sein sollten. Als der Mensch noch nicht so rational unterwegs war und von Entdeckungsdrang und Wissensdurst besessen war, waren Götter, Geister und Glaube ein zufriedenstellender Platzhalter für all das, was man nicht erklären konnte. Denn schon damals wollten die wenigsten an Zufall oder Chaos glauben.

Es wird aber kaum möglich sein, ein zufriedenes Leben zu führen, wenn wir hinter jedem Schicksalsschlag, jeder Krankheit, jedem Konflikt und jeder Unklarheit eine Erklärung oder eine Ursache finden wollen. Einiges wird für immer unerklärlich bleiben, und das macht das Leben so gegenwärtig, wundervoll und mystisch. In dem Moment, wo wir nicht mehr dem „Warum?“ und dem „Wofür?“ nachjagen, können wir ganz im „Wie?“ eintauchen. Dann öffnet sich die Tür zu einem Raum von einzigartiger Zeitlosigkeit und Grenzenlosigkeit, der nur mit Hingabe und Vertrauen und ohne Zweifel und Verstand betreten werden kann.

3) Ohnmacht

Für einige von uns ist das Schlimmste, was im Leben passieren kann, die Kontrolle zu verlieren. Aber wie viel Kontrolle haben wir tatsächlich über unser Alter, Aussehen und unsere Lebenskraft, über unsere Gesundheit und Beziehung, über die Zeit und über physikalische, globale, gesellschaftliche und politische Ereignisse? Natürlich können wir an dem einen oder anderen Rädchen drehen, aber bei genauerer Betrachtung und spätestens dann, wenn Vergänglichkeit und Tod an die Tür klopfen, müssen wir die unerwünschten Besucher demütig in unser Leben hereinlassen.

Für die Perfektionisten und Ästhetikfreaks unter uns, kann ein Blickwechsel viel Entspannung und Freude ins Leben bringen. Das Jahrhunderte alte japanische Konzept „Wabi Sabi“ besagt: „Erst unsere Unperfektheit macht uns einzigartig; erst unsere Einzigartigkeit verleiht uns Schönheit!“

4) Schuld

In vieler Hinsicht gestalten wir unser Leben nach dem Prinzip von „Ursache und Wirkung“. Eigentlich folgen wir dem ganzen Tag diesem Motto, indem wir schaffen, wirken, verändern, gestalten, erneuern und beenden, begrüßen und verabschieden …. in Bezug zu dem, was uns im Leben alles wichtig oder notwendig erscheint. In den 60er Jahren lautete ein Hippie-Slogan: „Selbst wenn du das Rattenrennen gewinnst, bist du immer noch eine Ratte“.

Wir sind zwar zufrieden und stolz, wenn wir etwas erreicht haben oder wir uns für eine gewisse Zeit gegen Vergänglichkeit und Ohnmacht behaupten konnten. Aber wir fühlen uns enttäuscht, schuldig oder gar entsetzt, wenn wir etwas nicht geschafft haben oder sogar Schuld an etwas sind. Es ist jedoch unausweichlich, dass wir immer wieder Auslöser für ein Ereignis sind, das wir eigentlich gar nicht wollten: Eine Verletzung, eine Beleidigung, ein Konflikt, eine Trennung, ein Verlust, etc.

Der Buddha zeigt uns die Tür aus diesem menschlichen Dilemma: Er lehrte, dass Karma nicht das Resultat von Gedanken, Worten und Aktionen bedeutet. Die Absicht, die dahintersteht, ist die eigentlich wirkende Kraft. Absichten sollten aber immer mit Weisheit und Empathie verbunden sein, denn sonst wird „gut gemeint“ sich zum Gegenteil von „gut“ umkehren.

5) Vergänglichkeit

Wie ein Damokles-Schwert hängt sie über uns und wir sind unermüdlich damit beschäftigt, diese bedrohende Tatsache zu verdrängen: Alles was wir gerade sind, alles was von uns geschaffen wurde, alles was uns umgibt, egal ob lebendige Wesen oder tote Gegenstände, ist diesem Prozess der Verwandlung unterworfen und wird sich früher oder später völlig auflösen. Wie viel Leid schaffen wir unbewusst, weil wir es niemals gewagt haben, diesem Naturgesetz mutig ins Auge zu schauen.

Der Buddha sagt, dass Vergänglichkeit (anicca) – neben Ichlosigkeit (anatta) und Leid (dukkha) – eine wesentliche Eigenschaft unseres Daseins ist. Leuchtet uns das ein, kann sie zu einer der wichtigsten Lehrmeisterinnen im Leben werden. Erkennen wir, dass nichts im Leben selbstverständlich ist, werden wir dankbar für all das sein, was uns das Leben jetzt gerade schenkt. Und wir können all das nutzen, um unsere gezählten Tage gewissenhaft, positiv und authentisch zu leben, ohne uns dabei an irgendwelche Vorstellungen und Ziele anzuklammern.

6) Alleinsein

Wie viel Zeit müssen wir alleine verbringen, obwohl wir uns Gemeinschaft wünschen und wie oft sind wir umgeben von Menschen und fühlen uns dennoch einsam. Wenn der einzige Sinn des Lebens darin besteht, mit anderen in Verbindung zu stehen; wenn wir uns durch die „sozialen Medien“ einbilden, dass virtuelle Begegnungen höchste Priorität haben, dann laufen wir ständig etwas hinter her und von uns selber weg. Auch eine Partnerschaft wird sich nur dann stimmig anfühlen, wenn keiner sein Lebensglück ausschließlich vom anderen abhängig macht. Dennoch entscheidet man sich bewusst, sein Glück und sein Lied mit jemanden zu teilen, um es dadurch zu verdoppeln und zu halbieren.

Da wir auch die letzte Schwelle im Leben ganz alleine überschreiten müssen, und wir niemanden und nichts in die unbekannte Reise danach mitnehmen können, sollten wir schon im Leben lernen, im Alleine sein All-Eins zu sein. Wie beglückend ist es, wenn wir unser eigener bester Freund sind, denn wir müssen sowieso unseren Körper, unseren Geist, unsere Gefühle und Stimmungen überall hin mitnehmen, egal wie sich diese ständigen Begleiter gerade benehmen und anfühlen.

7) Leid

Unsere menschliche Existenz ist nicht nur darauf ausgerichtet, um Freude, Enthusiasmus und Ekstase zu erleben. Im Leben geht es vielleicht sogar mehr darum, Leid zu erfahren und es zu transzendieren. Hunger, Durst, Müdigkeit, körperliche Schmerzen und psychisches Leid zwingen uns regelrecht dazu, diesem physischen, mentalen und seelischen Unwohlsein entgegen zu wirken. Manchmal hat man sogar das Gefühl, dass das Leben einem einzigen Kampf gleicht und sich wie eine Hühnerleiter anfühlt ….

Aber genau dieses Schmerzempfinden kann uns dazu antreiben und inspirieren, nach jenem rettenden Ufer Ausschau zu halten, wo wir Freude, Wohlbefinden und Stimmigkeit erleben dürfen. Und je mehr wir uns dabei Tools, Wissen und Erfahrungen aneignen, die uns von externen Faktoren und aufwendigen Glücksbringern unabhängiger machen, desto unbeschwerter und zufriedener werden wir durchs Leben gleiten. Meditation, Yoga, spirituelle Praktiken oder Ausrichtungen können uns dabei als wunderbare Türen dienen, durch die wir die Mauer des Leidens durchschreiten können.

8) Sinnlosigkeit

In Momenten, in denen uns eines oder all diese unausweichlichen Grenzen unseres Menschseins bewusst werden: Mangel, Chaos, Ohnmacht, Schuld, Vergänglichkeit, Alleinsein und Leid …. In solchen betrüblichen und ent-täuschenden Augenblicken, stellen wir naturgemäß den Sinn des Lebens in Frage. Manche kommen schon in jungen Jahren in eine Lebenskrise (bei mir war es schon Anfang zwanzig), andere rutschen erst später in eine Midlifecrisis und bei einigen muss erst eine schwere Krankheit oder der Tod anklopfen, damit sie aus einer gewissen Lebenstrance aufwachen.

Es sind eher feinfühlige Menschen, die durchlässiger für diese immanenten Welt- und Lebensschmerzen sind. Sinnlichen Freuden sind verführerisch und der menschliche Geist ist kreativ, um sich möglichst schnell wieder abzulenken. Wer von uns will sich wirklich mit dem wichtigsten aller Rätseln und dem schwierigsten aller Koans befassen: Wie finde ich Sinn in meinem Leben, das naturgemäß von so viel Unsinn umgeben und bestimmt ist?

Die Grenzen des Menschseins transzendieren

Jeder Weise und jeder Heilige musste sich dieser Frage und dieser Aufgabe unnachgiebig stellen. Und wenn du dich auf die Suche nach dem unerschütterlichen Glück des Lebens machen willst, musst auch du dies auf deine Weise tun. Dann wirst du irgendwann erahnen, dass du mehr als ein getrenntes Individuum bist, das in einem vergänglichen Körper und beschränkten Geist gefangen ist; dass du mehr, als nur der Bindestrich zwischen Geburts- und Sterbedatum bist; und dass es mehr gibt, zwischen Himmel und Erde, als nur diese messbare, begrenzte und vergängliche Welt. Dich selber, deinen Alltag und das Universum in Frage zu stellen, ist der erste notwendige Schritt die Sinnlosigkeit des Lebens zu überschreiten und damit die Grenzen des Menschseins.