Schon lange ist es her, dass ich mit so viel Begeisterung ein Hathayoga-Buch in Theorie und Praxis studiert hatte, wie dieses Pranayama-Werk von Ralph Skuban. Ich schätze ihn nicht nur als gewissenhaften, spirituellen und und down-to-earth Schriftsteller, sondern auch seinen authentischen und praxisbezogenen Unterricht.
Der Trend im Yoga und in entsprechender Literatur geht unübersehbar in Richtung Körper, Gymnastik, Fitness, Wellness und Therapie. Da ist es eine erfrischende Abwechslung, wenn jemand auf den Ursprung dieser alten Weisheitslehrer hinweist, und ungeschminkt Stellung zu modernen Interpretationen und Abweichungen nimmt. So schreibt er im Kapitel über die Bandhas: „Ein primärer physiologischer Zugang zur Erklärung von Yoga-Praktiken verlässt die ursprüngliche energetische Bedeutungsebene und läuft Gefahr, in ein oberflächlich-physiologisches Verständnis abzugleiten, ein Phänomen, das den modernen Yoga durchzieht wie ein roter Faden.“
Auch ich bin vor gut zwei Jahrzehnten ins Hathayoga mit viel Faszination an Asanas und Liebe zu physischen Details eingestiegen (… was sicherlich damit zu tun hatte, dass ich damals als Mönch im Buddhismus entsprechend involviert war, der den Körper mit seinen Bedürfnisse eher ignoriert oder als etwas Negatives abstempelt). In all den intensiven Yoga-Retreats und Ausbildungen wurde ich in dieser „Körperlichkeit“ unterstützt und bestätigt. Mit der Zeit wurde mir aber klar, dass zu viel physisches Wissen und körperbezogene Praktiken kein Sprungbrett ins Transpersonale sein kann, sondern eher eine materielle und weltliche Falle.
Ralph zitiert nicht nur klassische Yogatexte wie Patanjalis Yogasutra, die Hathayoga-Pradipika und Geranda Samhita, sondern auch tibetische Quellen und wissenschaftliche Erkenntnisse. Dabei berücksichtigt er sehr gewissenhaft, welche Übungen für den heutigen Menschen und für Freizeit-Yogi*nis hilfreich sein können, um in Balance und zu sich zu kommen. Im Kapitel „Die drei Atemräume“ wird beispielsweise empfohlen, bestimmte Pranayama-Übungen im Liegen auszuführen, obwohl dies in keinem originalen Yoga-Text geschrieben steht. Und er zitiert den Heiler und Atemlehrer Jack Angelo: „Die Bauchatmung bringt das ganze System ins Gleichgewicht, richtet alle Aspekte Ihres Wesens wieder gut aus und regt das Fließen der Heil-Energie an. Es ist eine essenzielle Selbst-Heilungs-Aktivität, die Ihre Atemkapazität erhöht und den Atemrhythmus optimiert.“ Dabei weist Ralph ausdrücklich darauf hin: „So heilsam die entspannende Bauchatmung ist, in den klassischen Pranayama-Übungen der alten Yogis ist das Aktivitätszentrum doch überwiegend der Brustraum.“
Mantrenhaft wiederholt er, wie wichtig es ist, Pranayama-Praxis extrem behutsam auszuführen, denn „wer hier übertreibt, kann sich Schaden zufügen, wie auch die Hathayoga-Pradipika eindringlich bemerkt. Wie bei allen Dingen im Leben, müssen wir auch beim Üben von Pranayama darauf achten, nicht unsere persönliche Grenzen zu überschreiten, auch dann nicht, wenn die alten Yoga-Schriften uns sehr ambitionierte Idealvorgaben machen.“ (Kapitel „Kumbhaka, die Atempause“)
Auch wenn es für unser westliches Yoga-Verständnis eigenartig klingen mag: Ursprünglich wurde der Körper nur als Mittel für erhabenere Ziele gesehen, und nicht als Wellnessbereiter oder Egobooster. Mit viel Erkenntnis und etwas Humor schreibt er: „Mit dem Körper den Körper transzendieren, mit dem Atem über den Atem hinaus und mit dem Geist die Loslösung vom Geist bewirken, mithin die Selbst-Befreiung von allen Gunas, um einzugehen in den großen Ozean des Seins – nichts weniger als das ist das fundamentale Programm des Yoga. Wer es gerne kleiner mag, ist natürlich eingeladen, Pranayama primär für das allgemeine Wohlbefinden zu üben, doch das eigentliche Ziel der Yoga-Philosophie ist radikal. Und seien wir ehrlich: Würden wir die Jahrtausende alten Texte eine fremden Kultur und Zivilisation heute noch studieren, wenn es darin nur um physische Atem-Praxis und körperliche Gesundheit ginge? Wären Buddha, Laotse, Patanjali oder Jesus so wirkungsmächtig geworden, wenn sie uns bloß körperliche Übungen und Gesundheitsratschläge gegeben hätten? Was all diese Weise und Erleuchteten verbindet, ist das große Ziel, auf welches sie mit jedem Wort hindeuten – auf den absoluten und erlösenden inneren Frieden, nach dem unsere Seele sich seit Äonen sehnt.“
Schrittweise werden die wichtigsten sieben der acht Pranayamas (Astha-Kumbaka) der Hathayoga Pradipika vorgestellt: Suryabedha, Ujjayi, Sitkari, Sitali, Bhastrika, Bhramari und Murcha. Dazu kommen Nadi-Sodhana, als grundlegende Pranayama, und Kaphalabhati, die genau genommen zu den sechs Reinigungsübungen (Shatkriyas) gehört. Trotz der detaillierten Beschreibungen dieser Übungen, und von unterstützenden Sitzhaltungen, Mudras und Bandhas, kommt Ralph immer wieder auf das Große und Ganze von Pranayama und Yoga zurück.
Beispielsweise bezieht er sich im Kapitel über die Nadis auf Swami Hariharananda Aranya (1869–1947) wenn er schreibt, „dass eine Pranayama-Praxis, die nicht als Meditation betrachtet wird, den Geist nicht beruhigt, sondern das Gegenteil bewirkt.“ Und weiter unten zitiert er Swami Vivekananda (1863 –1902): „Im Pranayama geht es nicht, wie viele denken, um den Atem. Der Atem hat in der Tat wenig damit zu tun, wenn überhaupt etwas.“. Im Kapitel „Bandhas“ resümiert Ralph Skuban über die Essenz des Yoga: „Pranayama ist das Zentrum des praktischen Yoga. Kumbhaka ist der Core des Pranayama. Die Bandhas sind der Weg, die Energie im Kumbhaka zu lenken und zum Stillstand zu bringen. Kommt die Energie zur Ruhe, so wird der Geist still. Der stille Geist ist Yoga.“
Dieses – ich möchte fast sagen – Meisterwerk der gegenwärtigen Yogaliteratur, kann ich allen ernsthaften Yoga-Praktizierenden und Yogalehrer*innen wärmsten empfehlen. Allerdings verstehe ich „Pranayama: Die heilsame Kraft des Atems“ von Ralph Skuban weder als unterhaltsame Lektüre noch als wissenschaftliche Abhandlung, sondern als Praxis-Handbuch, das mit viel erklärenden Hintergrundwissen angereichert ist. Es genügt dabei regelmäßig ein paar wenige Seiten oder Absätze zu lesen, um Inspirationen für die eigene Praxis zu bekommen, und um eine spirituelle Sichtweise auf das Leben zu entfalten.