Es gibt fünf Qualitäten und Lebensaufgaben, die ausschlaggebend dafür sein können, ob wir ein Ziel – egal ob weltlich oder spirituell – irgendwann einmal erreichen, oder ob wir unser Vorhaben schon vorher abbrechen bzw. es im Sand verlaufen lassen:

Der Schlüssel zur Selbst-Entfaltung

  1. Sehnsucht
  2. Wille
  3. Anleitung
  4. Praxis
  5. Geduld

Diese fünf Stufen der Spiritualität lernte bei Aadil Palkhivala kennen, ein außergewöhnlicher Yogalehrer, der auch das geniale Yoga-Buch „Fire of Love“ geschrieben hat.

Um sich überhaupt auf einen langen, mühsamen und undurchsichtigen Weg zu machen, ist sehr oft etwas Not-wendig, das jeder von uns tagtäglich mehr oder weniger erfährt: nämlich die Erfahrung von Unzufriedenheit und Leid.

Es gibt einige wenige weise Menschen, die nicht erst mit dem Kopf gegen die Wand fahren oder brutal am Boden der weltlichen Realität aufschlagen müssen. Sie begreifen schon vorher, dass Leben immer lebensgefährlich ist, niemand Krankheit und Altern entkommen kann, und alle sinnlichen Freuden bedingt und beschränkt sind. Aber da die meisten von uns leider nicht mit dieser transzendierenden Erkenntnisfähigkeit gesegnet sind, können wir uns zumindest mit Hilfe dieser folgenden Eigenschaften einem zufriedeneren Leben herantasten:

Sehnsucht

Nicht jeder, der leidet, will auch unbedingt das Unglück oder dessen Ursache loswerden. Denn das Ego kann sich dadurch auf eigenartige Weise definieren, in Selbstmitleid versinken oder sogar den Sinn des Lebens darin sehen. Wenn aber Leid unerträglich wird, dann entsteht ein notgedrungener Wunsch nach einer Existenz ohne Schmerz, Angst, Trauer, Wut, Verzweiflung oder Depression. Doch diese Sehnsucht bedeutet noch lange nicht, dass man auch eine Ahnung hat, wie man in stürmischen Zeiten einen friedlichen Hafen erreichen kann.

Wille

Der Wille gibt der unklaren Sehnsucht Kraft und Richtung. Wer wünscht sich nicht, hie und da einen Zustand wie Übergewicht oder eine Gewohnheit wie das Rauchen zu ändern? Wenn sich aber nicht genug Unzufriedenheit oder sogar Wut aufgestaut hat, wird die transformierende Kraft eines zielgerichteten Willens fehlen. Jedes Vorhaben, das Disziplin und Ausdauer braucht, wird dann zu einer bloßen Tagträumerei, die keiner Alltagsrealität standhält. (Siehe dazu auch „Die fünf Kräfte der Meditation„)

Anleitung

Wenn einmal die inneren und äußeren Fühler nach Problem-Lösungen ausgestreckt sind, dann nehmen wir uns und die Welt mit einer besonderen Achtsamkeit wahr. Phänomene und Situationen, die wir mit einem trägen (Tamas) oder unruhigen (Rajas) Geist nicht beachten, können plötzlich zu Augenöffnern, Wegweisern und Anleitungen zum Glücklich-Sein werden.

Die wenigsten Suchenden haben das Glück, gleich am Anfang ihres Weges einen Lehrer oder einer Lehre zu begegnen, die sie genau dort abholen und weiterführen, wo sie gerade in ihrem Leben stecken. Manche spirituellen Anweisungen passen für eine gewisse Zeit, aber irgendwann entwickelt man sich weiter und das einst Stimmige wird überflüssig oder sogar hinderlich. Wie eine Schlange, die ihre alte Haut abstreift, oder ein Kind, das irgendwann die Lust am Sandkasten-Spielen verloren hat.

Praxis

Von einer spirituellen Praxis kann man erst dann wirklich sprechen, wenn man sie über einen längeren Zeitraum beibehält, denn Regelmäßigkeit ist oft der transformierende Faktor – nicht nur bei der Entfaltung von spirituellen Qualitäten, sondern auch bei allen Künsten und in allen weltlichen und alltäglichen Handfertigkeiten.

Wenn man mit einer bestimmten Praxisform anfänglich nicht gleich klar kommt oder mit Widerständen reagiert (siehe dazu „Die fünf Hindernisse der Meditation„), heißt das noch lange nicht, dass sie falsch ist. Manchmal muss man erst längere Zeit üben, damit etwas in Fluss kommt und um herausfinden zu können, ob wir dadurch liebevoller, durchlässiger und bewusster werden, oder vielleicht sogar irritierter, härter und achtloser. Diesen Realitätstest kann kein Lehrer und keine Tradition für uns übernehmen, denn es gibt keine Praxis, die immer für alle passend ist.

Geduld

Es kann sein, dass die notwendige Sehnsucht da ist, der befeuernde Wille, die richtigen Anweisungen und die effektive Umsetzung in die Praxis … und trotzdem kommen wir kurz vor der Ziellinie zum Stehen, nur weil die Geduld nicht ausreichend vorhanden ist. Franz Kafka sagte einmal: „Vielleicht aber gibt es nur eine Hauptsünde: die Ungeduld. Wegen der Ungeduld sind die Menschen aus dem Paradies vertrieben worden, wegen der Ungeduld kehren sie nicht zurück“  (… in den Zustand des wahren Selbst.)

Spiritualität ist nicht immer logisch nachvollziehbar, sondern von Paradoxen durchwachsen. So fordert uns beispielsweise Anthony de Mello auf: „Der Drang nach Veränderung ist der Feind der Liebe. Meint nicht, euch selbst verändern zu müssen: nehmt euch an und liebt euch so wie ihr seid […] dann werden Veränderungen auf wunderbare Weise von selbst eintreten – zu ihrer eigenen Zeit. Gebt euch dem Strom des Lebens hin … frei und unbeschwert von Gepäck!“

Aus der yogischen Perspektive sollen wir uns und die Welt so annehmen, wie wir und sie sich gerade präsentieren; und uns den undurchschaubaren Kräften mit Respekt und Gelassenheit hingeben (Bhakti-Yoga). Auf der anderen Seite werden selbstloses Agieren (Karma-Yoga) oder bestimmte körperliche und mentale Übungen (Hatha-Yoga) empfohlen. Manchmal braucht es aber einfach nur ein Loslassen der dualistischen Sichtweise von Subjekt und Objekt, von richtig und falsch, um zu erkennen, dass ich nicht eines von unzähligen Individuen in der Welt bin, sondern sich das ganze Universum in mir befindet (Jnana-Yoga).

Diese fünf Stufen der Spiritualität werden uns ein ganzes Leben lang auf unseren Wegen begleiten, wenn wir bis ins hohe Alter uns entfalten wollen.